Zwitschis Entdeckung

„Verflixt und zugefedert noch mal“, schimpfte Zwitschi, „jetzt hast du mich auch noch runtergeschmissen!“ Der kleine Vogel saß verdrießlich im weichen Gras und schaute wütend auf Pünktchen, auf dessen Rücken er gerade noch gesessen hatte. „Lass mich endlich zufrieden! Die ganze Nacht bist du schon um meinen Kopf herumgesummt“, brummelte das Reh, ohne sich die Mühe zu machen, auch nur ein Auge aufzuklappen. „Herumgesummt? Ich summ’ dir gleich eins“, maulte Zwitschi und zog Pünktchen mit dem Schnabel am Ohr. „Zwitschi? Was machst du denn hier?“, fragte das Reh verwundert, als es den kleinen Vogel erblickte. „Ich habe versucht auf deinem Rücken zu schlafen. Zuerst wurde ich fast seekrank von deinem ständigen Geschaukel und nun bin ich auch noch hinaus aufs Grasmeer gespült worden.“ „Entschuldige, aber ich musste die ganze Nacht mit einer lästigen Mücke kämpfen. Du hast sie ja auch nicht vertrieben.“ „Was geht mich deine Mücke an. Die wollte mir ja nicht an die Federn. Und wenn wir schon bei meinen Federn sind, ist dir eigentlich bewusst, wie ungünstig sich so ein Schreck am frühen Morgen ...“ „Halt jetzt endlich deinen Schnabel und lass mich zufrieden. Mir schwirrt schon der Kopf von deinem Gequassel“, sagte das Reh und klappte beide Augen wieder zu. „Wie soll das gehen? Wenn ich erst mal wach bin, sperrt sich mein Schnabel automatisch auf. Was soll ich denn auch sonst mit dem frühen Morgen anfangen?“ „Ist mir egal“, gähnte das Reh und schlief ein. „Das kannst du doch nicht mit mir machen“, protestierte Zwitschi, aber Pünktchen zeigte kein Interesse an seinen Sorgen. „Na gut, dann muss eben Puh die Sache ausbaden“, sagte der kleine Vogel und versuchte sich durch das angeklappte Küchenfenster ins Zwergenhaus zu schmuggeln. Es wurde eng und enger. Zwitschi nahm es beinahe die Luft. Plötzlich bereute es der kleine Vogel, vor dem Schlafengehen den Erdbeer-Sahne-Röllchen den Garaus gemacht zu haben. Nicht auszudenken, was Puh sagen würde, wenn Zwitschi deswegen hier feststeckte. Langsam zog er sich zurück. Ein Waldrundflug war ja auch eine ganz hübsche Idee, da hing man wenigstens nicht eingekeilt irgendwo fest und musste sich von Puh befreien lassen, der einem dann wieder Vorträge über eine ausgewogene Ernährung hielt.

In der Morgendämmerung ließ sich Zwitschi über die Waldlichtung treiben. Kühl und klar war die Luft. Unter ihm roch es nach frischem Gras. Die Veilchen blühten in großer Zahl und verströmten einen herrlichen Duft. Doch was war das? Schweißgeruch mischte sich auf einmal darunter? Igitt! Und da drüben atmete der Verursacher tief durch: „Hallo, guten Morgen Listig“, begrüßte er den Fuchs, der gerade seine Morgengymnastik beendet hatte. Listig wischte sich mit der Vorderpfote den Schweiß von der Stirn. „Guten Morgen“, keuchte er ausgepumpt. „Was hast denn du gemacht?“, fragte Zwitschi interessiert. „Na Gymnastik. Weißt du, das ist gut für die Abwehrkräfte ...“ „... und für Muskelkater“, ergänzte Zwitschi. „Mag sein, aber man fühlt sich prima“, dem Fuchs strömten die Schweißbäche unablässig in die Augen. „Man sieht aber nicht danach aus“, Zwitschi sah ihn nachdenklich an. „Der optische Eindruck täuscht“, schnaufte Listig. „Du klingst aber auch nicht gerade, als fühlst du dich prima“, zweifelte der kleine Vogel noch immer, „oder täuscht auch die Akustik?“ Der Fuchs musste ihn unbedingt ablenken: „Willst du mit zum Fuchsbau kommen und mit uns frühstücken?“, fragte er. „Klar!“ Das war eher nach Zwitschis Geschmack. Welch ein Glück, dass ihn Listig nicht zu einer Runde Flügelkreisen eingeladen hatte. Den kleinen Ausflug zum Fuchsbau nahm er gern in Kauf. Schließlich erwartete ihn dort ein reichliches Frühstück.

Doch welch eine Enttäuschung stand da auf dem Tisch! Magerquark mit frischem Schnittlauch, Rettichsalat und Knäckebrot mit Halbfettkäse. Zwitschi ließ sich nichts anmerken. Er trank eine Schale Apfelsaft, murmelte etwas von keinen Hunger heute und schaute den Füchsen beim Frühstück zu. Danach half er ihnen beim Abwasch. Er nahm den Spülschwamm in den Schnabel und putzte die Teller. Dann bedankte sich Zwitschi noch einmal für die nette Einladung und flog zu den drei alten Linden. Vielleicht traf er dort auf Stachelchen und bekam auch vom Igel eine Einladung zum Frühstück. Familie Igel würde bestimmt etwas Besseres auf den Tisch bringen als Magerquark, Knäckebrot und Rettichsalat. Wer hatte den Füchsen nur diese schreckliche Diät verordnet? Zu Zwitschis Pech war der Igel weit und breit nicht zu sehen. Wahrscheinlich lag Stachelchen noch im Bett und wenn er aufstand, gab es Rosinenbrötchen und Kakao. Zwitschi mochte gar nicht darüber nachdenken. Und was machte er hier? Ohne einen Bissen im Schnabel flog er durch den Wald, um die Zeit bis zum Frühstück mit Puh totzuschlagen. Frühstück! Das klang nach Pflaumenkuchen, Nusskernen, Rosinenpastetchen und Schokoladenkeksen. Aber das hier war ja auch ganz lustig. Wütend riss Zwitschi den Schnabel auf: „Na wer sagt’s denn!“, murmelte er. Er hatte eine Mücke verschluckt. Hoffentlich war es die, deretwegen ihn Pünktchen abgeworfen hatte.

Zwitschi beschloss noch eine Runde um die drei Linden zu fliegen und den herrlichen Duft der Blüten einzuatmen. Das war so schön beruhigend. „Was haben wir denn hier?“, wunderte sich der kleine blaue Vogel. Zwitschi landete auf dem untersten Ast der mittleren Linde. Ein Vogelnest! Und darin lagen drei verlassene Eier. Aber wieso brütete keiner die Eier aus? „Diese Vogeleltern! Keine Verantwortung, kein Pflichtgefühl“, dachte Zwitschi, „das weiß doch sogar ich, dass die Eier gewärmt werden müssen.“

So schnell er konnte, flatterte er zurück in den Zwergengarten. Jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Ob Puh wach war oder nicht, er musste ihm von seinem Fund berichten. Zwitschi flog zum Zwergenhaus hinüber und hämmerte mit dem Schnabel gegen die Tür. Und schon stand der Zwerg vor ihm. Er hatte noch sein blütenweißes Nachthemd und die rosa Schlafpantoffeln an, die ihm Kobold Wuschel geschenkt hatte. Gerade putzte er sich die Zähne. „Puh, in den alten Linden ist ein verlassenes Vogelnest mit drei Eiern. Wir müssen etwas tun, die kleinen Vögel sterben sonst.“ „Schsch prrr“, jetzt hatte der Zwerg den Mund leer, „da hast du vollkommen recht, wir müssen etwas unternehmen. Wecke Pünktchen. Wir nehmen die kleine Kutsche.“ „Ich frage lieber Punktinchen. Pünktchen konnte heute Nacht nicht schlafen.“ Und weg war der Vogel. Schnell hatte er Punktinchens Moosunterschlupf in der Nähe des Zwergengartens gefunden. „Punktinchen komm schnell, drei Vogelbabys sind in Gefahr.“ „Ich komme so schnell ich kann, wir müssen sie retten.“ Und das Reh flitzte hinter Zwitschi her. Puh war inzwischen aus dem Haus gelaufen. Er trug immer noch seine Schlafsachen, aber das war ihm ganz egal. Vorsichtig spannte er Punktinchen vor die Kutsche und setzte sich hinein. Das Reh folgte dem aufgeregt vor ihm herflatternden Vogel.

Zwitschi hatte sich den Weg gut gemerkt und Punktinchen lief so schnell es konnte. Bald hatten sie das Nest erreicht. Es war noch so verlassen wie es der kleine Vogel vorgefunden hatte. Puh kletterte auf Punktinchens Rücken und von dort aus auf den Kopf des Rehs. Jetzt konnte er das Nest erreichen. Der Wichtel nahm das Nest auf seine Arme und rutschte auf seinem Hinterteil am Hals des Rehs hinunter. Dann lief er mit dem Vogelnest über Punktinchens Rücken und balancierte es bis in die Kutsche. Dort deckte er es mit einer warmen Decke zu. Zwitschi setzte sich zu ihm. „Wer brütet die Eier eigentlich jetzt aus?“, fragte der Vogel. „Na du und Willy“, sagte Puh. „Wir?“, Zwitschi riss den Schnabel entsetzt auf. „Hast du etwa gedacht, ich setze mich drauf!“, Puh konnte es nicht fassen. „Aber ich hab’ doch keinen blassen Schimmer, wie man brütet.“ „Im Gegensatz zu mir bist du immerhin ein Vogel. Das Ausbrüten von Eiern liegt sicherlich in deiner Natur. Also Zwitschi, es bleibt dabei: Du und Willy, ihr setzt euch auf das Nest. Ich werde euch in der Zwischenzeit mit Futter versorgen.“ „Futter, das klingt nicht schlecht“, sagte Zwitschi beruhigt. Zum Glück konnte man sich in Sachen Verköstigung auf den Wichtel verlassen. „Dennoch möchte ich mich beklagen. Schließlich werde ich für Eier zur Verantwortung gezogen, die ich nicht mal gelegt habe.“ „Das wäre auch schwierig, schließlich bist du ein Männchen.“ Zwitschi nickte unwillig. Musste dieser Wichtel immer so kleinlich sein? „Aber eins sag’ ich dir, wenn ich diese Vogeleltern erwische, verlange ich ein Jahr lang jeden Morgen einen dicken Mistkäfer als Lohn für meine treuen Dienste. Wer weiß, wie viele Tage meiner glorreichen Zeit ich mit ihrem Nachwuchs verbringe“, schimpfte Zwitschi. „Es könnte doch sein, dass irgendein Waldbewohner die Vögel beim Brüten gestört hat. Und da sind sie geflohen. Wir werden sie bestimmt nicht wiederfinden.“ „Wäre möglich. Aber wenn wir sie nicht wiederfinden, kann ich meine Mistkäfer ja gar nicht einfordern“, leichte Enttäuschung machte sich bei Zwitschi breit.

Die Kutsche hielt vor dem Zwergenhaus. Puh nahm das Nest auf die Arme und trug es hinein. Zwitschi steuerte auf die Kastanie zu. Ehe Willy begriff, was vorging, hatte der kleine Vogel ihn aus dem Bett geschmissen. „Was ist denn los?“, fragte der Kauz benommen. „Komm ins Zwergenhaus, du wirst Vater“, erklärte Zwitschi. „Das wüsste ich aber“, gähnte Willy. „Los jetzt“, drängelte der kleine blaue Vogel. Ergeben folgte ihm der Kauz ins Zwergenhaus. Dort setzten sich die beiden Freunde auf das Gelege. Der Zwerg ging in den Garten. Er hatte noch etwas Wichtiges zu tun. Freundlich lächelnd lief er auf Punktinchen zu: „So, jetzt spanne ich dich erst mal aus. Ich möchte mich bei dir bedanken, weil du uns geholfen hast.“ Zärtlich strich er dem Reh übers Fell und streckte ihm seine Hand hin. Punktinchen roch die leckeren Kräuter darin und freute sich riesig, als Puh sie ihm gab. „Ich habe euch doch gern geholfen. Hoffentlich überleben die drei kleinen Vögel.“ „Das hoffe ich auch.“ Puh ging zurück ins Haus. Willy war schon längst auf den Eiern eingeschlafen und auch Zwitschi wirkte müde. „Möchtest du einen Tee, Zwitschi?“, fragte der Zwerg. Der Vogel nickte: „Und wenn du schon dabei bist, ein paar Mandeln wären auch nicht schlecht.“ Bald darauf reichte ihm der Wichtel einen herrlich duftenden Kräutertee und eine Handvoll Mandeln. „Was glaubst du, wie lange wir hier sitzen müssen?“, fragte Zwitschi. „Woher soll ich das wissen“, gab Puh zurück. „Was mich schon lange interessiert: Wozu hast du eigentlich die vielen schlauen Bücher? Etwa zur Dekoration?“ „Na ja, dank der Bücher mache ich zumindest einen sehr belesenen Eindruck. Oder findest du nicht?“ Puh kraulte sich nachdenklich den Bart. „Willst du damit sagen, dass wir es aussitzen müssen?“, fragte Zwitschi. „Zumindest fällt mir nichts Besseres ein. Ein Brutlexikon ist schließlich nicht unter meinen Büchern.“ „Diese Zwerge“, dachte Zwitschi, „na wenigstens bekomme ich was zu Futtern.“

Und so saßen Zwitschi und Willy acht Tage ununterbrochen auf den Eiern. Sie verzichteten auf Rundflüge, auf Spiele, auf den Waldsee. Sogar seinen Kommentar zu Puhs rosa Schlafpantoffeln hatte Zwitschi vergessen. Puh verpflegte sie. Am achten Tag sollten sie belohnt werden. „Zwitschi, los wach auf, ich höre ein leises knacken und piepsen.“ „Was sagst du da Willy?“ „Hör doch, bemerkst du es nicht?“ „Tatsächlich, es piepst. Ist das nicht toll? Puh, Puh komm schnell, die Eierschalen platzen gleich.“ Der Zwerg kam angeflitzt. „Runter vom Nest, damit ihr die kleinen Vögel nicht erdrückt.“ Das brauchte er nicht zu wiederholen. Die beiden verstanden und sprangen von den Eiern. Dann geschah das Wunder. Die drei Eier platzten und nach und nach schälten sich drei herrlich flauschige Vögelchen heraus. „Oh sind sie nicht wunderschön“, Willy war entzückt. „Das sind jetzt eure Kinder. Ihr könnt stolz auf euch sein!“, Puh lobte die beiden. „Das ist ja großartig!“, Zwitschi war begeistert. „Elternpflichten? Wir? Ich weiß nicht, sind wir so gute Vorbilder?“, fragte Willy unsicher. „Aber natürlich! Wer wäre besser geeignet als ihr“, Puh ermutigte den Kauz. „Ist das dein Ernst“, Willy funkelte ihn mit großen fragenden Augen an. Der Zwerg nickte. „Wer außer Zwitschi könnte ihnen sonst beibringen, mich am Bart zu ziehen und meine Socken in die Blumenvase zu stecken“, sprach er zu sich selbst und schmunzelte. Doch Zwitschi hatte es gehört. „Bist du sicher, dass du willst, dass ich ihnen meine besten Streiche beibringe?“ „Sicher bin ich nicht, aber was könntest du ihnen sonst zeigen?“

Der Vogelnachwuchs fand diese müßige Diskussion völlig uninteressant. Lautstark meldete er sich zu Wort und sperrte die Schnäbel auf. „Ich mach’ die Flatter“, verkündete Zwitschi, „Willy sucht heute Würmer!“ „Zwitschi!“, der Kauz blickte ihn entgeistert an. „War ein Scherz Papa Kauz. Ich suche für unsere kleinen Federbüschel Futter.“ Willy atmete tief durch. Er war Zwitschi auf den Leim gegangen.

Für die nächsten Tage blieb das Nest mit den Neuankömmlingen noch im Zwergenhaus. Dann siedelte der Vogelnachwuchs dank Puhs Zauberkraft ins Kauzennest über. Und auch Zwitschi zog mit in die Kauzenwohnung. So schnell waren sie Eltern geworden. Das hätten sie sich nicht träumen lassen.

Pflichtbewusst hegten und pflegten sie ihren Nachwuchs bis er flügge wurde. Als Puh nach acht Wochen die ersten Flugversuche im Zwergengarten bestaunte, plusterten sich Willy und Zwitschi auf. „Na, wie haben wir das gemacht?“, fragten sie voller Stolz. „Ihr wart große Klasse“, lobte Puh. „Danke“, Willy wurde ein wenig verlegen. „Und nun?“, fragte Zwitschi, „Willys Nest wird allmählich zu klein!“ „Im Garten stehen so viele unbewohnte Bäume, sie könnten sich doch mit eurer Hilfe dort eine Wohnung einrichten“, schlug Puh vor. Und so zog jedes der drei Vogelkinder in sein eigenes Kinderzimmer um.