Zwergenhafte Entspannung

"... der gefährliche Drache reckte und streckte sich. Er riss vier seiner neun Mäuler gleichzeitig auf und rappelte sich hoch. Drohend kam er auf die hübsche Wichtelprinzessin zu, die gefesselt an einem Baum ..." Da klopfte es an die Tür des Zwergenhauses. Puh warf das Buch in die Sofaecke und sprang auf. Vor der Tür saß Hüpf. Aufgeregt mit den Ohren wackelnd, sah er Puh an. "Hallo Hüpf, was gibt es denn?" "Quaki hat, er hat ..." Das Eichhörnchen holte tief Luft. Es versuchte sich zu sammeln. "Beruhige dich erst mal. Was hat er denn?" "Na, er hat, er hat ... eine Fliege verschluckt", rief das Eichhörnchen und fuchtelte wild mit den Vorderpfoten. "Was hat er? Sag das noch mal", der Zwerg hoffte sich verhört zu haben. "Er hat eine Fliege verschluckt", wiederholte Hüpf. Der Zwerg sah ihn entgeistert an: "Und deswegen holst du mich von meinem Abenteuerroman weg? Quaki frisst doch ständig Fliegen. Er ist schließlich ein Frosch, verflixt und zugewichtelt!" "Aber die hatte so schöne gekräuselte Härchen an den Hinterbeinen", verteidigte sich Hüpf. Der Zwerg wunderte sich, warum sich das Eichhörnchen plötzlich für die Beinbehaarung von Fliegen interessierte. Er kümmerte sich aber nicht weiter darum. Schließlich brauchte ja jeder ein Hobby. Nur eines war ihm nicht klar: "Und was soll ich da jetzt machen?", fragte er um die Sache zu beenden. "Du könntest ihn durchschütteln, bis er die Fliege wieder freilässt", schlug Hüpf vor. "Und das ist dein voller Ernst", war Puh entsetzt. Hüpf nickte bekräftigend. "Weißt du was, schüttele ihn doch selber und lass mich in Frieden." Damit rammte er die Tür zu und setzte sich wieder zu seinem Buch. Zum Glück war Zwitschi bei den Hasen zum Pokern eingeladen und konnte ihn nicht auch noch auf die Nerven gehen. Wo war denn nur die Seite? Mussten Bücher eigentlich immer zuklappen, wenn man sie weglegte? Ah, ja, da ging es weiter:

"... kämpfen. Mutig stellte er sich dem Feuer speienden Ungeheuer entgegen. Mit einem Hieb schlug er ihm drei seiner Köpfe ab. Doch was war das? Bevor er zum nächsten Schlag ausholen konnte, waren die drei Köpfe ..." Das konnte es doch nicht geben! Wieso um alles in der Welt wollte heute jeder etwas von ihm. War er etwa die Auskunft? Wütend warf er das Buch beiseite und riss die Tür auf: "Stachelchen! Was gibt es bei dir Neues? Hast du vielleicht ein Kilo Schokolade verputzt und bist nicht dick geworden?", fragte der Wichtel, der inzwischen mit allem rechnete. "Ach so ein Quatsch, wenn ich dich schon aufsuche, dann kannst du dich darauf verlassen, dass es etwas Wichtiges gibt." "Ich weiß, du kommst jedenfalls immer vorbei, wenn mein blau gefiederter Mitbewohner dir gesteckt hat, dass ich Plätzchen gebacken habe." "Sag' ich doch, es ist immer wichtig." "Dann leg mal los, Plätzchen können es nämlich diesmal nicht sein", sagte der Zwerg. "Komm mal mit raus, du musst unbedingt sehen, was da vor deinem Gartentor steht!" Puh schlüpfte in seine Gummistiefel und folgte dem Igel nach draußen. Es war kühl und windig. Was lockte die Zauberwäldler an diesem Tag überhaupt in Scharen nach draußen. Wahrscheinlich hatte ihnen Zwitschi geflüstert, dass er heute keine Zeit hatte, Puh auf die Nerven zu gehen. Na, egal. "Da ist er", sagte Stachelchen stolz. "Da ist wer?", fragte Puh, der niemanden erblickte. "Siehst du ihn etwa nicht? Direkt vor deiner Nase steht er doch." "Wer?" "Den Pilz hier meine ich." Puh schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. "Und wegen dieser schrumpligen Marone holst du mich von meinem Sofa?" "Schrumplig? Die ist super. Fällt dir denn gar nicht auf, wie schön gerade sie gewachsen ist. Und dieser Hut erst! Sitzt er nicht unglaublich symmetrisch auf dem Stiel?" "Ganz toll, wirklich", knurrte Puh, machte kehrt und schlug seine Tür hinter sich zu. Zwitschi hatte seine Ersatzbank mit außergewöhnlich guten Nervensägen gespickt. Wenn er den kleinen blauen Vogel nachher an den Federn zu packen kriegte ... Puh versuchte sich zu entspannen. Er machte es sich zwischen drei Sofakissen gemütlich und suchte nach der richtigen Stelle in seinem Buch. Mal sehen, wie viele Wörter er diesmal lesen konnte, bevor der Nächste zur Pause pfiff.

"... stand und fürchterlich zitterte. Der grimmige Drache kam ihr so nahe, dass sein heißer Atem über ihr goldenes Haar ..." Das konnte doch nicht war sein! Was gab es denn nun schon wieder. Also Buch weg, Tür auf und? Was haben wir denn da? Diesmal saß Gundula im Zwergengarten. "Puh, Puh", krächzte sie völlig aufßer Puste, "Weißt du zufällig, wo der große Mediziner Krächzius von Schwarzefeder wohnt?" "Wo wer wohnt?" "Na, Krächzius von Schwarzefeder, den solltest du kennen. Er ist der berühmte Autor des großen Klassikers "Krähenwellness"." "Ach Krächzius, ja jetzt wo dus sagst", spottete Puh, "wer kennt ihn nicht." Mochte ja sein, dass das Fachbuch des Krähendoktors unter den schwarz gefiederten Waldbewohnern reißenden Absatz gefunden hatte, aber in seiner Bibliothek war es nicht zu finden. Wozu auch? "Was willst du eigentlich mit seiner Adresse? Willst du ihn um ein Autogramm bitten?", erkundigte sich der Wichtel und bemühte sich krampfhaft, ein Gähnen zu unterdrücken. "Ach Quatsch, Autogramm. Wo denkst du hin! Ich wollte Krächzius, diesem medizinischen Laien einen bösen Leserbrief schreiben. Da behauptet der Quacksalber doch tatsächlich, dass Krähen von Birnen Blähungen bekommen. Ich habe vorhin zu Forschungszwecken, quasi im Selbstversuch, eine besonders große der Sorte "Gute Luise" verputzt und siehe da oder besser höre und rieche mal! ... Na, was sagst du jetzt? ... nichts! Es passiert überhaupt nichts!", Gundula war sichtlich zufrieden. "Und deshalb jagst du mich von meinem Sofa runter?", fragte Puh. "Klar doch! Hast du eine Ahnung, wie bahnbrechend diese Erkenntnis ist?" "Hast du eine Ahnung, wie sehr mich das alles interessiert?", fragte Puh gelangweilt. "wenn du wüsstest, wie viele Krähen Birnen meiden, nur weil sie auf diesen Schwarzkittel hereingefallen sind. Das ist ein riesiger Skandal. Dabei könnten sie ... oh, Entschuldigung, ich muss dann mal weg." Gundula drehte sich um und erhob sich in die Lüfte. Ihr Start wurde von leisem Donnergrollen untermalt. Puh nahm sich fest vor, Abstand von der "guten Luise" zu halten. Womöglich löste sie auch in Wichtelbäuchen kleine Erdstöße aus. Schien ja eine ganz rabiate Dame zu sein die Gute. Er war wohl doch kein Quacksalber, dieser Krächzius von Schwarzefeder. Wenigstens hatte der Krähendoktor nun Ruhe vor seinen Birnen fressenden Lesern. Und er? Hatte er jetzt auch endlich Ruhe? Es kam auf einen Versuch an. Also, wieder rein in die Sofaecke und die Nase ins Buch gesteckt.

"... wieder nachgewachsen. Ein schreckliches Duell entbrannte. Der Drache schlug mit seinem Schwanz um sich und versuchte den Wichtelprinzen zu erschlagen. Der wich immer wieder geschickt aus. Die Wichtelprinzessin hatte die Fesseln inzwischen lockern können. Noch ein bisschen und sie würde ihrem Liebsten beistehen. Der hatte inzwischen sechs Köpfe auf einem Hieb abgeschlagen. Doch das ..." Das Buch flog zu Boden. Natürlich, wie konnte es auch anders sein. Puh musste ein wichtiges Problem lösen. Wahrscheinlich wollte Willy gerade wissen, ob er die grüne oder die rote Tischdecke nehmen sollte. Mit einem lauten Seufzer öffnete er die Tür. "Hallo Agathe." "Hallo Puh, du siehst so geschafft aus. Was ist mit dir?", erkundigte sich die Eule besorgt. "Ach nichts ist mit mir. Ich hatte mich bloß auf einen gemütlichen Lesenachmittag so ganz ohne Zwitschi gefreut und nun bin ich zum Kummerkasten für jedermann geworden." "Tut mir leid und ich wäre auch gar nicht hier, wenn es nicht so dringend wäre", sagte die Eule, "aber in einem halben Jahr heiratet eine meiner Schwestern und nun frage ich dich, rosé oder flieder?" "Mir wurst, meinetwegen Nelken oder Gerberas. Und überhaupt, was interessiert denn jetzt schon der Brautstrauß?" "Doch nicht Brautstrauß, wer kümmert sich um so was sechs Monate im Voraus. Nein, es ist viel dringender, was meinst du nun, passt zu meinem Gefieder eher eine rosé oder eine flieder farbene Schleife?" Puh spürte ein leichtes Grummeln in der Magengegend. Am liebsten hätte er Agathe die Tür vor dem Schnabel zugehauen. Doch wenn sein Rat als Mode-Experte gefragt war? Konnte er ihn dann der Eule verweigern? "Also schön, ich würde sagen, du solltest rosé nehmen. Das harmoniert ganz fantastisch mit den hellbraun gesprenkelten Federn an deinem Bauch." "Vielen Dank Puh, ich wusste, dass auf dich Verlass ist. Dann werde ich besser flieder tragen." Und schon war sie verschwunden. Puh blieb kopfschüttelnd in der Tür stehen, besann sich dann aber wieder auf sein Buch und probierte es noch mal mit der Sofaecke.

"... nützte nichts. Er musste es schaffen, sie alle neune abzuschlagen. Wieder holte er zu einem kräftigen Hieb aus. Das Schwert sauste durch die Luft und ..." Puh fuhr zusammen, ließ das Buch fallen und hetzte wieder zur Tür. "Lebensberatung brummiger Wichtel, wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?", fragte er, als er Willy erblickte. "Was ist denn mit dir los?", fragte der Kauz verwundert. "Was soll schon sein. Ich lese gemütlich. Von Zeit zu Zeit werde ich von einem netten Zauberwaldbewohner konsultiert, der gerade in einer Lebenskrise steckt. Es könnte nicht besser sein." "Dann ist es ja gut. Ich hatte nämlich den Eindruck, du bist ein wenig gestresst." "Gestresst? Ist nicht möglich! Wie könnte ich gestresst sein? Ich muss ja nur alle zwei Minuten zur Tür Springen und Beratungsgespräche zu den Themen: verschluckte Fliege, Blähungen durch Birnen, schrumplige Pilze und Modetrends für Hochzeiten in einem halben Jahr führen. Ich glaube ich setze mich nachher gleich mit meinem Roman auf meinen Fußabtreter. Dann verkürzt sich die Wartezeit für meine Notfälle." "Da bin ich aber froh, dass du heute so entspannt bist. Ich wollte dich nämlich fragen, ob ich lieber einen Apfel oder eine Banane vor der Mäusejagd futtern sollte. Was verleiht mir den nötigen Schwung?" "Friss am besten eine Birne, die sorgt für einen ausgezeichneten Heckantrieb. Frag mal Gundula. Die kann dir etwas über eine Sorte namens "Gute Luise" erzählen - wenn du mich fragst, eine echte Rakete, die gute." "Hä?" "Frag nur die Krähe! Sie hat mir das heute schon eindrucksvoll demonstriert mit der ollen Luise." "Hä, was?" "Frag sie und lass mich zufrieden." Puh knallte die Tür ins Schloss und ließ einen verdutzten Willy draußen zurück. Jetzt durchatmen, den Puls beruhigen und weiterlesen.

"... die neun Köpfe fielen zu Boden. Der Wichtelprinz hatte es geschafft. Die Wichtelprinzessin aber fiel ..." Wo fiel sie denn hin? Egal, offenbar war wieder Not an Puh. "Hallo Zwitschi, wieder da?" "Die haben mich total abgezockt. Ach Puh, da fällt mir ein, du hast kein Haus mehr. Schnuffi, Langöhrchen und Spitznäschen haben es erpokert. Sie ziehen in drei Tagen hier ein." "Wenn's weiter nichts ist. Kann ich, bevor ich die Umzugskisten packe, noch mein Buch zu Ende lesen?" "Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden", zweifelte Zwitschi. "Hab' ich schon, du hast mein Zwergenhaus verzockt. Wir müssen umziehen. Na und! Mir egal! Hauptsache, wir ziehen ins hinterletzte Eckchen des Waldes, wo uns keiner findet. Das hier ist nämlich kein Haus mehr. Das ist eine Praxis." Und dann erzählte Puh von seinen Patienten. Zwitschi hörte zunächst aufmerksam zu. Doch dann langweilten ihn Puhs Geschichten. Deshalb fraß er die letzten beiden Seiten aus Puhs Abenteuerroman. Und wenn Puh den Vogel vielleicht ein wenig Schüttelt und die Schmipsel wieder zum Vorschein kommen, kann er in sechs Monaten auf der Hochzeit von Agathes Schwester bestimmt die ganze Geschichte erzählen. Aber wahrscheinlich nur, wenn Agathe sich doch für die Schleife in rosé entscheidet und Gundula keine Birnen gefressen hat.