Zahlenzwitschi

Zwitschi saß hoch oben auf dem Birnbaum und sinnierte: "Sieben Birnen trägt er dieses Jahr. Letztes Jahr waren es noch vierzehn. Das sind exakt ..." Während er so vor sich hingrübelte, gesellte sich Willy zu ihm auf den Ast. "Was machst du denn da?", wollte das Käuzchen wissen und betrachtete erstaunt die Denkfalten auf der Stirn des kleinen blauen Vogels. "Ich jongliere mit Zahlen", sagte der, "oder ist dir noch nicht aufgefallen, dass die ganze Welt ein einziges Zahlenrätsel ist?" "Kannst du mir das mal näher erklären?", fragte der Kauz gespannt. "Gut Willy, ich geb' dir ein Beispiel: Wenn unser Wichtel nicht so recht auf sein neues Zaubertränklein achtgibt, das auf dem Herd bei Stufe drei vor sich hinbrodelt, kann man ihn erst "Ach du grüne Neune!" schreien hören. Dann fängt er an im Dreieck zu springen und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Ist die Explosion jedoch trotzdem unvermeidlich, kannst du beobachten, wie er auf allen Vieren kriechend das Haus verlässt." "Hä?", Willy sah seinen Freund verständnislos an. "Was verstehst du daran nicht? Mehr Zahlen konnte ich ja nun wirklich nicht in meine Ausführungen packen. Also gut versuchen wir es noch einmal mit einem zweiten Beispiel: Unser neunmalkluger Wichtel löst doch von Zeit zu Zeit ein Kreuzworträtsel." Willy nickte und Zwitschi fuhr fort: "Dort trägt er gern unter Zweifingerfaultier Ai ein und grinst, wenn er Schulnote ungenügend mit sechs löst. Wahrscheinlich denkt er dabei an mich. Hat er dann noch einen der zwölf Monate herausgefunden, lässt er alle Fünfe gerade sein und hält ein Zehn-Minuten-Schläfchen." Willy starrte Zwitschi verblüfft an. "Hast du es immer noch nicht kapiert? Ich will dir doch nur erklären, wie viele Zahlen uns durch unseren Tag begleiten, ohne, dass wir davon wirklich Notiz nehmen. Apropos Tag. Die Woche hat sieben davon. Man kann einen Tag auch als einen Abschnitt von vierundzwanzig Stunden bezeichnen, von denen jede einzelne sechzig Minuten ..." "Halt, halt, ich beginne zu verstehen. Bei dir geht die Angst vor der morgigen Mathekontrolle um", lächelte Willy sanft. "Größere Zahlen sind im Sprachgebrauch übrigens auch nicht selten. Nehmen wir doch mal den Tausendfüßler, der stundenlang auf einem Tausendschön hockte, das zwischen einer Vielzahl vierblättriger Kleeblätter stand. Dort saß er nun auf seinen vier Buchstaben und wartete verzweifelt auf seine Braut, mit der er in den siebten Himmel fliegen wollte, um sich dort häuslich auf Wolke sieben niederzulassen. Da schlich sich durch das hoch stehende Tausendgüldenkraut dieser verflixte Neuntöter heran und ... Warte Mal, sagtest du Mathekontrolle", Zwitschi wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Der Kauz nickte bedächtig. "Sagtest du auch morgen?" Willy nickte wieder. Plötzlich wurde der kleine Vogel von Panik erfasst. Seine Augenlider zuckten und die Federn sträubten sich: "Hilf mir! Hilf mir! Lass mich bitte nicht im Stich", jammerte er. "Ist doch selbstverständlich", sagte Willy. "Danke! Danke! Danke!", freute sich der kleine Vogel, "du bist ein wahrer Freund. Danke, dass ich bei dir abschreiben darf." "Moment mal. Vom Abschreiben war nie die Rede. Wir werden jetzt gemeinsam lernen und sehen, ob wir aus dir nicht doch noch ein kleines Rechengenie machen können", stellte Willy richtig und forderte seinen Freund auf ihn in sein Kauzennest zu begleiten. Zwitschi verzog das Gesicht und folgte ihm. Vielleicht verhalf ihm das Lernen mit Willy wenigstens zu einer guten Vier.

Willy schlug das Mathebuch auf und sagte: "Wir beginnen mit einer leichten Aufgabe, zum Warmwerden sozusagen." "Da bin ich ja mal gespannt", knurrte Zwitschi. "Wie viel sind neun plus neun?" "Neun was?" "Das spielt doch keine Rolle", meinte Willy. "Für mich schon", war Zwitschi stur. "Meinetwegen Sahneröllchen", brummelte Willy genervt. "Das kommt ganz auf den Standpunkt an", erklärte Zwitschi. "Auf welchen?", seufzte der Kauz, der an Zwitschis Antwort kein ernsthaftes Interesse hatte. "Also von meinem Standpunkt aus betrachtet ist es genau die richtige Menge für eine kleine Zwischenmahlzeit. Puh würde sagen, es sind viel zu viele und du wolltest wahrscheinlich ein paar davon abziehen und selber verputzen", erläuterte Zwitschi. Willy schlug die Flügel über dem Kopf zusammen. Worauf hatte er sich da bloß wieder eingelassen. "Dann nehmen wir halt an, es sind Kopfkissen." "Dazu habe ich nur noch eine klitzekleine Frage: Wer um alles in der Welt braucht achtzehn Stück davon?" "Keine Ahnung. Wenigstens hast du die Aufgabe richtig gelöst", freute sich Willy und stellte eine Zweite: "Rechne zwölf geteilt durch vier." "Was soll ich teilen?", erkundigte sich der Vogel. "Du hast gewonnen, machen wir es anders. Wie viel erhält jeder, wenn du 12 Haselnüsse an 4 zauberwäldler verteilst?" Zwitschi dachte lange nach. "Wenn ich sie verteilen soll, ist nichts mehr übrig, was man noch verteilen könnte", sagte er schließlich. "Dann nehmen wir eben an, Puh würde 12 Haselnüsse unter vier Zauberwäldler verteilen!", brummelte Willy, "wie viele kann er jedem geben?" "Bist du sicher, dass sich der Aufwand wegen dreier Nüsse lohnt?", fragte der Vogel. "Zwitschi, du bist ein Genie. Schon wieder richtig", freute sich der Kauz, "Es gibt da nur noch ein Problem, du kannst die Aufgaben nicht andauernd hinterfragen. Denk einfach an etwas, dass dir gefällt, beispielsweise Lindenblüten, Narzissen oder Tautropfen, und rechne damit. Machen wir also weiter. Wie viel sind 4 mal sieben?" Zwitschi grübelte: "Achtundzwanzig", sagte er nach ein paar Sekunden. "Wie hast du das so schnell gelöst?", wollte Willy wissen. "Ich habe mir Buttercremetörtchen vorgestellt und mir den riesigen Berg ausgemalt." "Komische Methode, aber sie scheint zu funktionieren", meinte Willy. Und so rechneten die beiden noch zwei Stunden lang. Zwitschi löste fast jede Aufgabe. Bei Plus stellte er sich vor, wie sein Törtchenberg anschwoll. Bei Minus malte er sich aus, wie er ein Törtchen nach dem anderen verschlang, bei Mal sah er, wie sich vor seinem geistigen Auge mehrere Törtchenberge nebeneinander auftürmten. Nur das Geteilt wollte er sich einfach nicht denken. "Genug gelernt", sagte Willy schließlich und gähnte. "Darf ich dir zum Schluss auch noch eine Aufgabe stellen?", fragte der Vogel. Der Kauz nickte. "Stell dir vor, du hast sechs Bananen, eine Mango, drei Kiwis, 5 Mandarinen, zwei Pfirsiche und eine Ananas. Was kommt raus?" "Was soll da schon rauskommen! Man kann nicht einfach unterschiedliche Früchte addieren", maulte der Kauz. "Und ob man das kann", lachte Zwitschi. Willy warf ihm einen interessierten Blick zu. "Obstsalat kommt raus, du gefiederter Taschenrechner", freute sich der kleine blaue Vogel diebisch. Willy lachte nun auch. Dann ging er in seine Schlafecke und machte sein Bett zurecht. Er wollte schließlich morgen ausgeschlafen sein. "Ich seh' mir nur mal eben noch die Brüche da an", murmelte Zwitschi. Aber schon bald fielen ihm die Augen zu und er schlief auf Willys Mathebuch ein.

Schwere Träume kamen ins Kauzennest. Zwitschi saß auf einem Löschblatt und steckte seinen Schnabel in ein Apfelschnitzchen, als sich dieses in einen Radiergummi verwandelte. Der kleine Vogel spuckte die Krümel aus und auf dem Löschblatt wurden plötzlich lauter Tintenkleckse sichtbar. Während er sie erstaunt besah, verwandelte sich das Löschblatt in einen fliegenden Teppich und Zwitschi flog über einen Wald von Bleistiften dahin. Sie riefen ihm zu: "Du hast dich nicht gescheut, unsere Minen abzubrechen! Der Zirkel wird uns rächen!" Als Zwitschi sich umdrehte, sauste ein großer Zirkel auf ihn zu, dessen Spitze genau auf sein Hinterteil gerichtet war. Der Vogel zerrte mit dem Schnabel am Löschblatt, damit es schneller fliegen sollte, doch es half nichts. Der Zirkel näherte sich bedrohlich. In seiner Not riss Zwitschi das Löschblatt mit seinem Schnabel in Streifen und ließ sich fallen. Er fiel und fiel und landete auf einem Blatt mit unzähligen Rechenkästchen. Darauf standen Aufgaben. "Löse uns!", riefen sie ihm entgegen. Auf einmal hatte Zwitschi einen Bleistift im Schnabel. Doch der schrieb nicht, was der Vogel wollte. Und so erhielt jede Aufgabe ein falsches Ergebnis. "Du hast uns nicht lösen können", schrien die Aufgaben, "jetzt bekommst du eine Sechs." Da näherten sich ein Tintenfass mit roter Farbe und eine Schreibfeder. Die Schreibfeder sprang in das Tintenfass und kritzelte an das Ende des Aufgabenblattes eine dicke fette Sechs. Plötzlich wurde die Sechs lebendig. Sie schlängelte sich auf Zwitschi zu und wollte sich gerade um seine Beinchen schlingen, da klingelte Willys Wecker. Zwitschi fuhr schweißgebadet aus seinen Albträumen hoch. Noch nie war er so froh gewesen, dass eine Nacht vorüber war.

"Zwitschi, ist mit dir alles in Ordnung?", fragte Willy besorgt. Zwitschi brauchte ein paar Minuten um sich zu sammeln. Er atmete tief durch und schlug mit den Flügeln. Wo waren die Rechenaufgaben und die kleine rote Schlange hin? Der Kauz beobachtete seinen Vogelfreund verwundert. Offenbar hatte der ihn überhaupt nicht gehört. "Zwitschi, komm mit ins Zwergenhaus", sagte er schließlich, "dort wartet ein köstliches Frühstück auf uns." Der Vogel sah ihn überrascht an: "Was machst du denn hier?" "Na, wohnen", sagte Willy kurz und auch in seinen Augen konnte man Erstaunen lesen. "Ach so, ja, stimmt", murmelte der kleine blaue Vogel. "Hast du vorhin etwas von Frühstück erzählt oder gehörte das noch zu meinem Traum?" "Das habe ich tatsächlich. Komm mit ins Zwergenhaus. Unser Lieblingswichtel will uns vor unserer Mathekontrolle noch mal richtig verwöhnen." Plötzlich war Zwitschi wieder ganz der Alte. Er flog voran und fröhlich zwitschernd sprang er als Erster durchs weit geöffnete Küchenfenster auf die Fensterbank. "Eins, zwei, drei", zählte er, "du Puh? Wusstest du, dass auf deinem Fensterbrett drei Orchideen stehen?" Puh drehte sich zu Zwitschi um. "Da seid ihr ja endlich", strahlte er und die beiden gefiederten Freunde setzten sich an den Küchentisch. "Möchtet ihr ein paar Apfelschnitze", fragte der Wichtel. "Nein danke, tönte Zwitschi, "deinen Radiergummi lass stecken." Willy riss die Augen erstaunt auf und auch Puh begriff nicht. "Aber ich hätte gern ein paar", sagte das Käuzchen und Puh stellte ein Tellerchen vor Willy hin. Zwitschi hatte vor sich ein Schälchen Rosinen stehen: "Eins, zwei, drei, vier, fünf", zählte er. Vielleicht ist Mathematikunterricht für dich gar nicht so gut?, überlegte Puh. Willy schmunzelte und steckte seinen Schnabel in ein Schüsselchen Erdbeerquark. "Wie viele Schnäbel voll hattest du in deinem Schüsselchen?", wollte der kleine blaue Vogel nach dem Frühstück wissen, "bei mir waren es vierzehn." "Ich würde sagen, so köstlich, wie der Quark geschmeckt hat, waren es eindeutig zu wenig", erwiderte der Kauz. Puh packte nun die Schulbücher der beiden in den Rucksack und begleitete sie zur Waldschule. "Viel Glück bei eurer Leistungskontrolle", wünschte er ihnen und ging ins Lehrerzimmer.

"Guten Morgen", wünschten Zwitschi und Willy, als sie das Klassenzimmer betraten. Gern hätten sie noch ein wenig mit den anderen Schultieren geschwatzt. Aber ach! "Mal wieder ein wenig spät", drang da eine Stimme an ihre Ohren. Agathe war schon da, und sicherlich hatte es auch schon zur ersten Stunde geläutet. "Ich verstehe", sagte die Eule lächelnd und sah auf Willys Schnabel, "ihr hattet ein köstliches Frühstück. Hat der Erdbeerquark geschmeckt?" Die beiden gefiederten Freunde nickten. Da holte Hüpf, das kuschelige Eichhörnchen, ein Taschentuch aus seinem Rucksack und putzte Willy die Quarkspuren weg. "So und hier habe ich nun eure Aufgabenblätter", sagte die Eule und teilte sie unter ihren Schülern aus.

Zwitschi saß vor seinem Blatt. Überall Rechenkästchen. Plötzlich hatte er seinen Bleistift im Schnabel. Diese Situation hatte er doch erst in der letzten Nacht erlebt. Ein ganzes Blatt voller Aufgaben! Und er? Er hatte nicht eine Einzige richtig lösen können. Und dann war das Tintenfass herbeigesprungen, die Schreibfeder war darin untergetaucht und hatte eine dicke fette Sechs auf das Blatt geschrieben. Zwitschi begann am ganzen Körper zu zittern. Er traute sich nicht, den Bleistift auf das Papier zu setzen. Bestimmt würde der dort die falschen Ergebnisse hinter die Aufgaben schreiben. Willy sah zu seinem Freund hinüber. Der saß wie erstarrt vor seinem Blatt und machte keinen einzigen Bleistiftstrich. Das Käuzchen musste ihm helfen: "Denk an die Buttercremetörtchen. Dann kann gar nichts passieren", flüsterte Willy. "Wenn du noch einmal vorsagst, musst du vor die Tür", sagte die Eule streng. "Ach Agathe, ich habe nicht vorgesagt", entschuldigte sich Willy, "Mir ist nur aufgefallen, dass Zwitschi wie versteinert vor seinem Aufgabenblatt hockt. Ich habe ihn nur an die Buttercremetörtchen erinnert, die er sich gestern, als wir zusammen gelernt haben, vorgestellt hat." Agathe sah Willy erstaunt an. "Das stimmt", bestätigte nun auch Schnuffi, der kleine Hase, "ich habe auch verstanden, dass Willy Buttercremetörtchen gesagt hat." "Ist ja schon gut. Ich weiß doch, dass Willy eine ehrliche Kauzenfeder ist", schmunzelte die Eule gütig. Zwitschi dagegen ließ den Bleistift über das Blatt fliegen. Türme von Törtchen erhoben sich vor seinem inneren Auge. Bei Plus schwollen sie an, bei Minus verputzte er ein paar davon und bei Mal setzten sich neben den ersten Berg ein zweiter, ein dritter und manchmal sogar noch ein paar Berge mehr. Nur mit geteilt konnte der Vogel noch immer nichts anfangen.

Als die gute Eule am Ende der Stunde die Mathearbeiten einsammelte, warf sie einen Blick auf Zwitschis Ergebnisse. "Das ist das Beste, was du je abgeliefert hast", lobte sie den kleinen Vogel, "ich denke heute Nacht kannst du ruhig schlafen. Das hier reicht mit Sicherheit für eine gute Drei." Der kleine Vogel strahlte: "Wenn mich nicht wieder dieser vermaledeite Zirkel verfolgt, kann ich das bestimmt", meinte er lächelnd und fing einen erstaunten Blick der Eule auf.