Wichtel Ahoi!

Was war das für ein wundervoller Morgen im Zwergengarten. Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ die Tautropfen wie Diamanten auf den Grashalmen glitzern. Die Luft roch frisch und ein kühler Windhauch streifte durch die dicht belaubten Baumkronen. Misteldrossel, Tannenmeise, Nachtigall, Gelbspötter, Rotkehlchen und Halsbandschnäpper hatten sich zu einem fröhlichen "Guten-Morgen-Gruß" eingefunden. Sie saßen in den hohen Apfelbäumen und zwitscherten so schön sie konnten. Auch Fräulein Schwarzspecht ließ sich nicht lange bitten und begann munter zu trommeln. Der Eichelhäher kreiste über der Versammlung und ließ seine heiseren Schreie vernehmen. "Uhu, uhu, uhu", rief Willy, der kleine Kauz und steuerte seine Kastanie an. Er setzte sich auf einen der Äste und verharrte lauschend. Da kam etwas kleines Blaues auf ihn zugeflogen und zwitscherte aufgeregt: "Meinst du, das könnte zum Problem werden, wenn Puh merkt, dass ich meine roten Schlafsöckchen in die Waschschüssel mit seinem weißen Nachthemd geschmuggelt habe?" Willy sah Zwitschi mit großen fragenden Augen an: "Ich weiß nicht so recht, vielleicht steht unser Lieblingswichtel ja auf rosa Nachtwäsche", überlegte er. "Zwitschi!", hörten sie Puh schreien, der mit wild fuchtelnden Armen aus dem Zwergenhaus stürzte. "Wahrscheinlich zählt rosa doch nicht zu seinen Lieblingsfarben", meinte der Kauz. "Würd' ich so nicht sagen, bei Socken fliegt er geradezu auf rosa!", sagte der kleine Vogel. "Du musst es ja wissen", lächelte der Kauz, der ganz genau wusste, wie gern sein Vogelfreund mit Puhs Socken spielte - egal ob sie gewaschen waren oder nicht. Willy konnte das nicht verstehen, billigte Zwitschi aber dieses Vergnügen zu. Solange er nicht seine violetten Bettschuhe zerfetzte, konnte Willy Zwitschis Schnabelei an den Schwanzfedern vorbeigehen. "Zwitschi, verflixt und zugewichtelt! Wir haben da was zu besprechen", brüllte der Wichtel aufgeregt. Inzwischen hatte er auch die Waschschüssel aus dem Haus geholt und hielt nun ein rosa Nachthemd in die Höhe. "Kann ich mich bei dir verstecken, bis sich Puh wieder beruhigt hat", fragte der kleine Vogel vorsichtig. Doch Willy, der befürchtete, dass das Tage dauern konnte, schüttelte energisch den Kopf. "Zwitschi komm sofort her!", forderte der Wichtel und schwang das rosa Nachthemd wie eine Fahne.

Zwitschi flog hinunter in den Garten: "Du möchtest mich sprechen?", fragte er und setzte sein freundlichstes Lächeln auf. "Was ist das hier?", fragte Puh verärgert. "Das ist dein Nachthemd. Eigentlich müsstest du es kennen", erklärte der kleine Vogel. Puh saugte die frische Luft ein. Er hatte Mühe an sich zu halten: "Wieso zum Wichtel noch mal hast du deine roten Socken zu meinem weißen Nachthemd in die Waschschüssel gesteckt?" "Meine Socken brauchten unbedingt eine Auffrischung, nachdem ich letzte Nacht so an den Füßen geschwitzt habe. Und dein Nachthemd hatte nichts dagegen", verteidigte sich Zwitschi. "Deine roten Schweißsocken und mein blütenweißes Nachthemd haben sich farblich angenähert", schrie Puh aufgebracht. "Aber das sieht doch gar nicht so schlecht aus", meinte sein blau gefiederter Mitbewohner gelassen, "rosa ist doch eine sehr schöne Farbe." "Ich trage seit Jahr und Tag blütenweiße Nachthemden. Was soll ich mit dem Ding hier?", beschwerte sich der Wichtel. "Wenn es dir nicht gefällt, könntest du es Luzie, dem niedlichen Wichtelfräulein, zum Geburtstag schenken. Sie steht auf Rosa. Ihre Gardinen sind rosa, ihre Sofakissen sind rosa und sogar ihr Gartenzaun leuchtet rosa." "Wie wäre es, wenn ich Luzie einen schönen Haarkranz aus blauen Vogelfedern schenke", keifte Puh. "Blau mag sie nicht", gab Zwitschi schnell zurück. Er wusste zwar nicht, ob das stimmte, fürchtete aber sehr um sein Gefieder. "Was mach' ich nur? Ohne mein blütenweißes Ersatznachthemd bin ich nur ein halber Wichtel. Ich fühle mich so verloren, unverstanden und schrecklich allein" Puhs Zorn war tiefer Wehmut gewichen. "Nun stell dich mal nicht so an. Erst vor drei Wochen hat dir dein Koboldfreund Wuschel zu deinem Geburtstag einen grün-gestreiften Schlafanzug geschenkt. Wie wäre es damit?" "Ausgeschlossen! Ich steige doch nicht in diesen hässlichen Schlafanzug. Der ist aus Frottee und fühlt sich an wie mein Badetuch! Ich will ein zweites Baumwollnachthemd und zwar so blütenweiß, wie das hier mal war." Und dabei sah er mit Tränen in den Augen auf dieses rosafarbene Monstrum, dass er aus tiefster Seele verabscheute. Zwitschi sah Puh erstaunt an. Er verstand diese Wichtel einfach nicht. Immer mussten sie so schrecklich kompliziert sein und in irgendwelchen Sentimentalitäten herumschwelgen. Er fraß doch auch Orangenscheiben, wenn keine Rosinen da waren! Was konnte an einem rosa Nachthemd so schlimm sein? "Vielleicht kannst du dir ja eins aus einem deiner blütenweißen Bettlaken nähen", schlug der kleine Vogel schließlich vor, um Puh zu trösten und das eingetretene Schweigen zu brechen. Die Idee war nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber wieso sollte der Zwerg denn die Nadel schwingen, wenn Zwitschi an seinem Unglück schuld war?

"Was hältst du denn für ein lustiges rosa Segeltuch in den Wind?", fragte Wuschel fröhlich und sprang über den Gartenzaun. "Das ist mein Ersatznachthemd. Zwitschi hat es gefärbt", jammerte Puh. "Sieht echt trendy aus", lobte Wuschel. "Aber ich find's hässlich", beklagte sich Puh. "Dann ist jetzt wohl endlich die Gelegenheit gekommen den schönen Schlafanzug einzuweihen, den ich dir vor Kurzem geschenkt habe", freute sich der Kobold. "Er steigt doch nicht ...", begann Zwitschi. "Halt bloß deinen Schnabel", fauchte Puh. Doch es war zu spät. "in dieses hässliche Frotteeding, das sich wie sein Badehandtuch anfühlt", vollendete Zwitschi den Satz. Wuschel grinste: "Ich ja auch nicht. Kitty, das hübsche Wichtelfräulein mit den lustigen Ringelsöckchen, hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt und da hab' ich gedacht: Endlich hast du was zum Weiterverschenken bekommen. Meine Schatztruhe mit den Geschenken zum Weiterverschenken hatte sich nämlich geleert." Jetzt musste auch Puh lachen. "Da tut es mir wenigstens nicht darum leid, dass ich dich mit dem Pralinenkasten verwöhnt habe, den mir Luzie zum Namenstag geschenkt hat." Wuschel schmunzelte: "Den kannte ich schon. Den habe ich vor zwei Jahren Kobold Knuffel zur Einweihung seiner neuen Hütte überreicht, nachdem ich ihn zuvor von meiner Großmutter als Dankeschön fürs Blumengießen erhalten habe. Inzwischen ist er unterwegs zu Kitty als kleine Aufmerksamkeit für zwischendurch." Zwitschi saß kopfschüttelnd im Gras. Er verstand diese Wichtel noch weniger als einfach nicht. Offenbar hatten sie Spaß daran, Dinge, die keiner haben wollte, wieder und wieder zu verschenken. Auf jeden Fall nahm er sich ganz fest vor, seinen Schnabel künftig aus jedem geschenkten Pralinenkasten herauszuhalten.

"Und was machen wir nun mit meinem Nachthemd?", fragte Puh seufzend. "Welche Farbe soll es noch mal sein?", wollte Wuschel wissen. "Weiß!" "Kein Problem", meinte der kleine Kobold. Er zupfte sich an der Nasenspitze, zwackte sich in die Ohren und nieste vier Mal. Und siehe da: "Das ist nicht weiß, das ist weinrot", motzte Puh. "Also schön, probieren wir es noch einmal." Wieder Nasenspitze, Ohren und Niesen, diesmal aber sieben Mal und siehe da: "Das ist gelb", protestierte Puh. "Langsam kommen wir der Sache näher", meinte Wuschel. "Und bis morgen hat er sicherlich den Dreh raus", kommentierte Zwitschi Wuschels Koboldtricks. Der kleine Kobold ließ sich nicht beirren. Nasenspitze, Ohren, wieder Niesen, diesmal zwölf Nieser hintereinander. Und siehe da: "Das ist ja violett", maulte Puh. "Ich glaube wir entfernen uns gerade wieder. Hast du zufällig ein Bettlaken übrig? Ich könnte dir ja ein neues Nachthemd nähen", schlug Wuschel vor. Puh war einverstanden. Die Beiden gingen ins Zwergenhaus und Zwitschi trippelte hinterdrein.

"Habe ich ein Glück, dass du heute zufällig vorbeigekommen bist", freute sich Puh und stellte ein Glas Erdbeersaft vor Wuschel hin. "Das war kein Zufall. Ich wollte euch nämlich zu einer kleinen Bootsfahrt auf dem Waldsee einladen, jetzt wo ich ein Ruderboot mein Eigen nenne." "Bootsfahrt? Wieso sagst du das erst jetzt", erkundigte sich Puh. "Ich war ja bis vor einer Minute noch dein Kummerkasten und musste mich um dein Seelenheil kümmern", erwiderte Wuschel, "also, wo hast du das Nähzeug." "Vergiss das Nähzeug", legte Puh fest, "wir fahren Boot." "Kein Nachthemd mehr?", war der Kobold erstaunt. "Ich schlüpfe in das Frotteeding, wenn mein blütenweißes Nachthemd, das ich gerade in Gebrauch habe, durchgeschwitzt ist und werde mir bei Gelegenheit selbst ein zweites nähen." "Wie du meinst", sagte Wuschel und stürmte zur Tür. "Nehmt ihr mich mit?", fragte Zwitschi und sah Puh aus flehenden Augen an. Der Zwerg nickte. Als sie in den Garten hinausrannten, sang Zwitschi voller Inbrunst: "Eine Seefahrt die ist Lustig ..." Davon erwachte Willy und lugte verschlafen aus seinem Kauzennest: "Was ist denn mit dir los?", fragte er seinen Vogelfreund und ließ ein lautes Gähnen vernehmen. "Ich, der unerschrockene Kapitän Zwitschi, gehe auf hohe See", jubilierte der kleine Vogel. "Matrose Zwitschi", korrigierte ihn Wuschel schnell, der keinen Wert darauf legte unter Zwitschis Kommando zu rudern. "Aber unerschrocken", beharrte der kleine blaue Vogel. "Meinetwegen", brummelte Wuschel. "Auf hohe See?", fragte Willy nach, der nicht so recht verstand, was Zwitschi da herausposaunt hatte. "Genaugenommen auf den Waldsee", erklärte Wuschel. Das ließ sich hören. Neugier flammte in Willy auf. Einen Ausflug zu Wasser hatte er noch nicht unternommen. Und wenn es ihm nicht gefiel, dann konnte er ja einfach seine Schwingen schwingen und ins Kauzennest zurückfliegen. "Nehmt ihr mich mit?", fragte er. "Klar, fliege einfach hinter uns her", erwiderte Wuschel. "Fliegen? Ich? Jetzt? Dazu bin ich viel zu müde", gähnte das Käuzchen. "Also gut, schwing dich einfach runter in den Garten. Ich hole die Schubkarre", meinte Puh und verschwand im Geräteschuppen.

Willy thronte in der Schubkarre. Stolz blickte er sich um. Da lag ja noch etwas Violettes! Das sah sehr gemütlich aus und würde ein gutes Sitzpolster ergeben. "Kann ich die violette Decke da haben?", erkundigte sich der Kauz. "Wenn du auf einen nassen Hintern Wert legst. Das ist nämlich Wuschels letzter Versuch gewesen meinem frisch gewaschenen Nachthemd seine ursprüngliche Farbe zurückzugeben", lächelte Puh. "Nein danke", sagte Willy, "aber ein Sitzpolster wäre schon angebracht, womöglich ziehe ich mir sonst noch einen Splitter ein." "Moment, Ich hole dem gefiederten Herrn eines meiner Sofakissen", entgegnete Puh und verschwand im Zwergenhaus. "Bist du jetzt endlich fertig oder wie lang ist die Liste deiner Sonderwünsche noch", quengelte Zwitschi. Willy antwortete nicht mehr. Er schlief bereits auf dem Weichen Sofakissen, das ihm Puh unter den Hintern geschoben hatte.

Puh schob die Schubkarre zum Waldsee. Es ging ein wenig holprig über Stock und Stein. Doch Willy machte sich nicht einmal die Mühe eines seiner Augenlieder hochzuziehen. Er schlief und schnarchte seelenruhig. "Wir sind am Bootsanlegesteg", verkündete Wuschel. "Willy aufwachen, ich trage dich nicht ins Boot", rief Puh. Müde flog Willy hinüber und ließ sich auf eine der Bänke fallen. Sofort fielen ihm wieder beide Augen zu. "Wieso wollte der eigentlich mit?", fragte Zwitschi verwundert, "ob er nun hier schläft oder in seinem Nest, ist doch eigentlich egal." Da hörten sie das Käuzchen im Traum sprechen: "Schiff ahoi, alle Matrosen an Bord, die Wichtel auf die Ruderbank und dann den Anker lichten." "Erstaunlich", sagte Puh und auch Zwitschi war verblüfft. Puh und Wuschel schnappten sich je eines der Ruder und die Bootsfahrt begann.

War das herrlich. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Waldsee und stoben wie kleine Funken auseinander, wenn das Boot hindurch fuhr. Puh ließ sich die leichte Brise um seine Nase wehen und sog die klare Luft in tiefen Zügen ein. Wuschel saß entspannt auf der Ruderbank und pfiff ein fröhliches Liedchen. Willy schlief fest und zufrieden. Nicht einmal die Wassertropfen, die von Zeit zu Zeit auf seine Federn herabrieselten, störten ihn. Zwitschi genoss das sanfte Schaukeln des Bootes. Er bewunderte sein Spiegelbild im klaren Wasser und sah begeistert auf den weißen Schaumstreifen, den das Boot hinter sich herzog. Puh glaubte der Vogel hätte nur einen Blick für die Schönheiten der Natur, als der plötzlich fragte: "Wie schaut es eigentlich mit Proviant aus?" "Brauchen wir nicht. In einer Stunde legen wir wieder an", erklärte Wuschel. "Du brauchst vielleicht keinen, aber ich schon", erboste sich Zwitschi über die schlechte Vorbereitung dieses Ausflugs. Er stolzierte nun freudlos auf dem Bootsrand umher und warf sehnsüchtige Blicke zu den Kirschbäumen hinüber. "Dann flieg schon los und hole dir ein paar Früchte", sagte Puh. "Kommt nicht infrage! Ich fahre doch nicht Boot, um dann zu fliegen." "Also gut. Ich werde das Boot an die weit überhängenden Zweige heranmanövrieren. Warte nur ein Weilchen", meinte Wuschel beschwichtigend. Doch Zwitschi dauerte das Weilchen viel zu lange. Er trippelte an das äußerste Ende des Bootsrands und machte einen langen Hals, bis er ... "Hilfe, Vogel über Bord!" schrie. Zwitschi paddelte verzweifelt und durchpflügte mit seinen wild rudernden Flügeln das Wasser. Puh warf einen Rettungsring über Bord und Zwitschi gelang es, sich mit dem Schnabel daran festzuhalten. Der Zwerg holte den Ring wieder ein und zog den kleinen blauen Vogel an Bord. Doch bei dieser Rettungsaktion hebelte er versehentlich sein Ruder aus, das auf den sanften Wellen des Waldsees schnell davongetragen wurde.

"Toll Zwitschi! Jetzt glaube ich auch allmählich daran, dass wir verhungern", meinte Kobold Wuschel, "mit nur einem Ruder erreichen wir die Bootsanlegestelle in diesem Leben nicht mehr." "Wieso denn nicht? Das kann doch kein Problem sein", zeigte sich Puh äußerst optimistisch und begann zu paddeln. Doch das Boot zog nur kleinere und größere Kreise. So kamen sie jedenfalls nicht vom Fleck. "Mir wird schon ganz schwindlig", beschwerte sich Zwitschi. "Du hast es gerade nötig", brummelte Puh, "deinetwegen sitzen wir ja in diesem Schlamassel." "Schlamassel? Ich dachte, das hier ist ein Boot?", gab der kleine blaue Vogel zurück. "Ignoriere ihn einfach", riet Wuschel dem Zwerg, nachdem er bemerkt hatte, dass der bereits hellrot angelaufen war. "Was machen wir bloß?", fragte Puh, "zum Ufer ist es ja nicht weit. Wir könnten schwimmen." "Ich lasse doch mein Boot nicht im Stich", protestierte Wuschel, "außerdem bin ich Nichtschwimmer." Puh grinste. Was man doch alles erfuhr, während man hoffnungslos auf dem Waldsee herumdümpelte und nicht von der Stelle kam. Inzwischen hatte auch Wuschel versucht mit nur einem Ruder in Richtung Bootsanlegestelle zu gelangen. Es war aussichtslos. "Wie wäre es, wenn ich ans Ufer schwimme und zum Wichtelwald hetze", schlug Puh vor, "dort finden wir bestimmt Hilfe." "Du willst mich doch nicht etwa mit diesem blau gefiederten Vielfraß allein lassen, der in der letzten Viertelstunde sage und schreibe vierunddreißig Mal "Hunger" gebrüllt hat?" "Du hast recht. Ich darf dich in dieser Stunde der Not nicht allein lassen. Wir haben aber noch eine Geheimwaffe an Bord." "Und die wäre?", fragte Kobold Wuschel. "Willy, unser lieber guter Willy. Der hat noch trockene Federn und kann Hilfe herbeiholen." "Willy?", Wuschel sah misstrauisch zu dem schlafenden Käuzchen hinüber, dessen Brust sich unter den regelmäßigen Atemzügen sanft hob und senkte. "Willy! Aufwachen", rief Puh. "Hä, hu, was?", fragte der Kauz verträumt. "Wir sind in Seenot", erklärte der Zwerg. "Seenot?", brauste Zwitschi auf, "Hungersnot, wolltest du sagen!" "Hä, hu, was?", Willy verstand kein Wort. "Seenot! Wir sind komplett manövrierunfähig! Eines unserer Ruder ist davon getrieben! Wir drehen nur noch Kreise!", schrie Wuschel verzweifelt. "Ach Seenot", begriff Willy endlich, schloss die Augen und döste weiter. "Hilfe, Hilfe, ich verhungere", krakeelte Zwitschi so laut er konnte. Jetzt wo seine Federn durchnässt waren, konnte er sich nicht mehr an Land retten. Es würde sicher Stunden dauern, bis die Sonne ihn ausreichend getrocknet hatte. Und bis dahin war er sicherlich zu geschwächt, um ans Ufer fliegen zu können. "S.O.S.!", schrie Wuschel. Doch Willy konnte das nicht beeindrucken. Er sang im Schlaf: "Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern ..." Puh rang verzweifelt die Hände und flehte den großen Klabautermann an. Da näherte sich fröhlich krächzend die schwarz gefiederte Rettung.

"Hallo ihr vier", rief Gundula freundlich und ließ sich auf den Planken nieder. "Wir sind auf die hohe See hinausgerudert und kommen nicht mehr an Land. Ich habe mit dem Hintern das Ruder ausgehebelt, als ich Zwitschi zurück ins Boot gezogen habe", erklärte Puh. "Hunger, Hilfe Gundula, ich bin seit Stunden ohne Nahrung!", wimmerte Zwitschi. Die Krähe mochte den kleinen Vogel schrecklich gern und so flog sie zu den großen Kirschbäumen hinüber und kehrte mit drei Zweiglein, an denen je drei dicke rote Kirschen hingen, im Schnabel zurück. Zwitschi war überglücklich. Er gab der Krähe einen dicken Kuss mit seinem Schnabel, um danach knallrot anzulaufen. Gundula lächelte milde. "Willy erweist sich auch nicht gerade als Rettungsanker", berichtete Puh weiter, "er interessiert sich mit keiner Feder für unsere missliche Lage." "Also schön. Du hast mich überredet. Ich fliege in den Wichtelwald und hole Hilfe", sagte die Krähe. "Oh würdest du das wirklich für uns tun, geliebtes Gundilein", fragte Zwitschi erwartungsvoll. Gundula drehte sich verlegen weg und verschwand: "Ich bin bald wieder zurück", versprach sie. Zwitschi sah ihr noch lange schmachtend nach.

"So was aber auch. Wieso haben wir der guten Krähe nicht auch gesagt, dass wir Hunger haben", fiel Wuschel nach einer Stunde ein. Puh zog hilflos die schultern hoch. "Willy", versuchte er es, "Willy, alter Seebär, hole deinem Lieblingszwerg und Wuschel, deinem Lieblingskobold bitte ein paar Kirschen. Wir verschmachten." Willy rührte sich nicht. Vielleicht hätte Puh ja auch bei Gundula anbändeln sollen wie Zwitschi. Der kleine Vogel saß jedenfalls satt und zufrieden auf der Bank und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. "Willy, zum Kauzenohr nochmal, dein lieber Puh verhungert! Ist dir das so egal!", schrie der Zwerg. Willy zuckte kurz zusammen, machte: "Hä, hu, was?" und schlief postwendend weiter. Puh wollte gerade von Bord springen und zum Ufer schwimmen, als sich mit lautem Lachen ein Ruderboot näherte.

"Luzie und Kitty!", rief Wuschel, der als Erster die beiden Wichtelfräuleins erkannte. Das Boot brauste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf das Ruderboot der beiden Wichtel zu. Gundula saß auf dem Bug und krächzte fröhlich. Die Krähe hatte sichtlich Spaß an der Seefahrt. "Wir haben euer Ruder aufgefischt", riefen die beiden Wichtelfräuleins. "Habt ihr auch was zu Knabbern dabei?", erkundigte sich Wuschel. "Da habt ihr aber Glück gehabt. Dein Pralinenpräsent hat mich kurz vor der Abfahrt erreicht. Ich habe es im Rucksack stecken", sagte Kitty stolz und kletterte zu Puh und Wuschel ins Boot. Wuschel verzog das Gesicht. Offenbar gab es verschiedene Definitionen von Glück. Wenn der Pralinenkasten wirklich Glück war, sollte er vielleicht doch besser zu Unglück wechseln. Ergeben nahm er eines der weißlich schimmernden Häppchen. "Gar nicht so schlecht", schmatzte er, "schmeckt ein Bisschen wie meine Badeseife." "Sag bloß du isst Seife", war Puh erstaunt. "Du etwa nicht?", fragte Wuschel verblüfft. Luzie reichte den beiden Wichteln das Ruder und warf Puh ein paar Kusshände zu. Kitty kletterte zurück zu ihr ins Boot und die beiden Wichtelfräuleins brausten davon. "Schiff ahoi", krächzte die krähe, "volle Fahrt voraus!" "Wenigstens haben sie die seifigen Pralinen zurückgelassen", strahlte Wuschel und hielt Puh den Kasten hin. Der spürte plötzlich, wie sein Hunger wie von Zauberhand verschwand.

"Ahoi Matrosen, setzt die Segel, alle Mann an Deck! Kommando: Wendet!", flüsterte Willy im Schlaf. Puh, Wuschel und Zwitschi bedachten ihn mit Erstaunen. Offenbar schlief der Kauz und offenbar schlief er auch wieder nicht. Der kleine Vogel dachte: "Zuerst die Wichtel und nun auch noch die Käuzchen. Ich versteh' hier überhaupt nichts mehr." Puh und Wuschel legten sich in die Riemen und ruderten zurück zum Anlegesteg. Kurz bevor sie ihn erreichten, schlug das Boot Leck und Wasser strömte herein. "Was ich dich schon gleich hätte fragen sollen", sagte Puh, "woher hast du plötzlich ein Ruderboot?" "Das haben mir meine Hausgespenster Gruseli und Spuki gebaut", war Wuschel sichtlich stolz. "Und dir hat nicht zu denken gegeben, dass sie nicht mit an Bord sind?", hakte Puh nach. "Wieso hätte mir das zu Denken geben sollen?", wollte Wuschel wissen. "Deshalb", sagte Puh und patschte in der Wasserlache herum. "Mmmhhh, jetzt, wo du's sagst", meinte Wuschel kurz. Dann setzte er seine Zipfelmütze ab und bog seine Daumen nach hinten. "Hier hast du einen Eimer", sagte er zu Puh gewandt und reichte ihm die verzauberte Mütze, "gib mir dein Ruder dafür." Und so nahm das Ruderboot wieder Fahrt auf. Wuschel legte sich in die Riemen und Puh schöpfte mit ganzer Kraft. Zwitschi saß zufrieden auf seiner Bank und träumte von Gundula und den süßen Kirschen, die er aus ihrem Schnabel empfangen hatte. Endlich erreichten sie die Anlegestelle. "Willy, wir haben geankert", rief puh glücklich und erleichtert. "Hä, hu, Was?" Willy war nicht wach zu kriegen. "Du säufst mit dem leckgeschlagenen Kahn ab, wenn du nicht von Bord gehst", wurde Zwitschi ungeduldig. "Hä, hu, was für ein Kahn, ich steck' doch in meinem Bett." Jetzt reichte es Puh. Er nahm den Zipfelmützen-Eimer, füllte ihn mit Wasser und leerte ihn über Willy aus. Der schreckte hoch: "Hä, hu, Seenot, ich ertrinke!" "Komm, ab mit dir in die Schubkarre", sagte Puh und Willy schleppte sich lauthals gähnend hinein. Und dort konnte er endlich mal so richtig ausschlafen.