Theater, Theater

Ein großes Plakat hatte die Premiere des diesjährigen Sommer-Märchentheaters angekündigt. Und so hatten sich die Bewohner des Zauberwaldes auf der Waldwiese versammelt um die Erstaufführung von "Dornröschen" nicht zu versäumen. Außerdem gab es für jeden der kam ein Softeis gratis und selbst wenn das Stück nichts hergeben sollte, hatte man wenigstens ein süßes Trostpflaster. Auch im Zauberwald förderte man die Kunst mit allen Mitteln.  

Der Vorhang ging auf und gab den Blick auf die erste Szene frei: König Puh und Königin Luzie saßen an der Wiege, die im großen Festsaal stand, und lächelten glücklich. "Hast du auch die weisen Feen zur Taufe unserer kleinen Prinzessin eingeladen, liebster Gemahl?", fragte die Königin, die ein seidenes grünes bodenlanges Kleid mit feiner Spitze trug. "Natürlich, aber ich konnte nur 12 Feen einladen, für die 13. war im ganzen Schloss kein goldener Teller mehr aufzutreiben, liebste Gemahlin", sagte König Puh, der in eine festliche purpurne Robe gehüllt war. "Das war nicht recht, die 13. Fee nicht zu bedenken, das gibt bestimmt noch Ärger", flüsterte Königin Luzie besorgt. "Ach was, wenn ich die 13. Fee einlade und sie von einem silbernen Teller essen muss, ist der Ärger auch nicht kleiner und so bleibt wenigstens mehr vom Pilzragout für mich übrig", erklärte König Puh und rückte mit wichtiger Miene seine Krone zurecht. Durch die große Tür des Festsaales traten nun die Gäste der Taufe ein und Puh und seine Königin begrüßten sie herzlich. Die Gäste setzten sich an die lange Tafel und König Puh nahm in Erwartung der weisen Feen, die bald eintreffen würden, am Kopfende neben der Wiege Platz. "Sieh mal, wie friedlich unsere kleine Prinzessin schläft", sagte Luzie und strich Dornröschen Willy zärtlich über die Federn. Puh nickte, er war begeistert von Willys schauspielerischer Glanzleistung. Der Kauz lag in der Wiege, ließ sich von Luzie sanft schaukeln,  und dachte im Halbschlaf daran, wie er alle anderen Bewerber um die Hauptrolle ausgestochen, na ja sagen wir lieber ausgeschlafen hatte. Selbst Paul Kauz hatte keine Chance gegen ihn gehabt. Im Schlafen war Willy eben nicht zu schlagen gewesen. Solch eine schlafmützige Höchstleistung konnte nur er allein abliefern. Ob es ihm zu denken geben sollte, dass sein härtester Konkurrent nun die Rolle der bösen Fee übernommen hatte? Willy verscheuchte diesen Gedanken. Er musste völlig in seiner Rolle aufgehen, und das bedeutete: ab mit ihm in Morpheus' Arme!  

Nun betrat die erste Fee die Bühne. Hase Schnuffi, gekleidet in ein langes weißes Gewand, in der Pfote einen Silbernen Stab, ging zur Wiege und wünschte der kleinen Prinzessin Schönheit. Danach folgte Hase Langöhrchen, ebenfalls in ein weißes Gewand gekleidet, ging zur Wiege und wünschte dem schlafenden Dornröschen Tugend. Jetzt betrat Hase Spitznäschen die Bühne, leider betrat er nicht nur die Bretter, die die Welt bedeuten. Er trat außerdem auf den Saum seines langen Gewandes. Er stolperte, sein spitzer Feenhut fiel ihm vom Kopf, der silberne Stab zerbrach. Das war ein Auftritt. Spitznäschens Ohren wurden ganz rot und er stammelte: "Ich wwwünsche dddir Reichtttum, und einen besseren Schneider, als ich ihn hatte." ein einzelner Buh-Ruf war aus dem Publikum zu vernehmen. Es war der von Kitty, dem Wichtelfräulein, dass sich um die Kostüme gekümmert hatte. "Dem schließe ich mich  an", knurrte Puh und rückte schon wieder seine Krone zurecht, die ihm inzwischen bis über die Augen gerutscht war. Kitty hatte es vernommen und warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. Weitere 8 Feen betraten die Bühne und bedachten Dornröschen mit ihren guten Gaben. Puh flatterten inzwischen die Nasenflügel. Das Pilzragout, was vor ihm in einer großen goldenen Schüssel dampfte, machte ihm zu schaffen. "König Puh, du musst auf die Saaltür sehen", raunte Regisseur Wuschel ihm zu. "Du hast gut reden", keifte der König wenig majestätisch zurück, "dich umschwirren nicht diese köstlichen Düfte." Wuschel murmelte: "Hab ich's nicht gleich gesagt, dass wir nur so tun sollten, als ob in der Schüssel etwas Essbares wäre, aber nein, mein Ensemble hat mich einfach überstimmt."  

König Puh richtete die Krone abermals, straffte sich, und sah zur Saaltür. Die öffnete sich mit lautem Gepolter und die 13. Fee stürmte in den Festsaal, bevor die 12. Fee, die inzwischen auch schon eingetreten war, ihren Wunsch ausgesprochen hatte. Paul, die Fee, Kauz ging zur Wiege und rief: „Dornröschen soll sich in ihrem 15. Jahr an einer Spindel stechen und tot umfallen!“ Dann warf er den anwesenden Gästen noch einen vernichtenden Blick zu und fegte ohne ein weiteres Wort aus dem Saal. Ein gelungener Auftritt. Das Publikum applaudierte bei Pauls großartiger Szene anhaltend. Dornröschen Willy ärgerte sich. Dieser Paul, nun hatte er ihm glatt die Show gestohlen. Na warte, wenn er erst die 100-Jahre-Schlaf-Szene spielte, flogen ihm sicher sämtliche Herzen zu. Willy verabschiedete sich mit diesem Gedanken wieder ins Reich der Träume und gönnte den Laiendarstellern um sich herum ihre Sekunden des Ruhms. Da trat Eichhörnchen Hüpf, in der Rolle der 12. Fee an die Wiege, und milderte den bösen Spruch: "Ich wünsche, wenn sich Dornröschen an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel gestochen hat, soll es nicht tot umfallen, sondern 100 Jahre schlafen." Dieser Satz war Willys Lieblingssatz, 100 Jahre lang schlafen, da freute sich jede seiner Federn einzeln, auch wenn seine Ohren diesen Satz diesmal nicht vernahmen.  

König Puh stand auf, nachdem er Königin Luzie, die in Tränen ausgebrochen war, getröstet und seine Krone gerichtet hatte. "Alle Spindeln in meinem Reich sollen verbrannt werden, wir können essen!", verkündete er und hob seinen Weinpokal. "Das war nicht der korrekte Text", zischte Regisseur Wuschel. "Na ja, nicht ganz, aber wir können jetzt trotzdem essen, wer will schon kalte Pilze", stellte König Puh fest. Und dann fiel unter lautem Klatschen der Vorhang, um sich nach einer 15 minütigen Pause wieder zu heben.  

Auf der Bühne sah man nun einen Garten. Dornröschen Willy wandelte darin herum und der Gärtner Maulwurf Grabi schenkte ihm einen Rosenstrauß zu seinem 15. Geburtstag und gratulierte ihm. Dornröschen Willy setzte sich auf eine Bank und blinzelte in den Himmel. Am Gartentor standen Königin Luzie und König Puh, in festliche Gewänder gekleidet und winkten ihr zum Abschied zu. "Sieh dich ruhig im Schloss um, mein liebes Töchterchen!", rief Königin Luzie. "Heute Abend sind wir zurück und feiern deinen Geburtstag", versprach König Puh und warf die Krone in hohem Bogen ins Gebüsch. Was zu viel ist, ist zu viel. Das Publikum lachte. Und Wuschel biss sich wütend auf die Unterlippe. Andauernd pfuschte dieser König an seinem Drehbuch herum. Nun wäre es an der Zeit gewesen, dass Dornröschen Willy herumgewandelt wäre und die Stufen zum Turm erklommen hätte. Aber Willy, der war auf seiner Bank eingeschlafen. "Dornröschen", zischte Wuschel. Nichts. "Dornröschen!", rief Wuschel nun schon etwas vernehmlicher. Nichts. Keine einzige Feder rührte sich. Das konnte doch nicht wahr sein. War Willy etwa doch eine Fehlbesetzung? Aber beim Vorschlafen, da hatte er eindeutig den Schnabel vorn gehabt! Hätte Wuschel die Wachszenen doch mit einem Double besetzen sollen? Eigentlich nicht, denn wie viel Schlaf konnte ein einziger Willy Kauz schon schlafen? Offenbar einige Mützen voll mehr, als Wuschel gedacht hatte. "Dornröschen!", schrie Wuschel und es war ihm egal, dass das Publikum bemerkte, dass sein Hauptakteur im Tiefschlaf lag oder vielmehr saß, auf jeden Fall, ganz ohne Spindel. Willy schrak hoch. War da was. Hatte jemand ganz im Hintergrund nach Dornröschen gewispert? Er schüttelte sich und dann schoss es ihm eiskalt durch und durch. Er musste sich doch erst an der Spindel stechen, bevor er schlief. Außerdem war das Lager im Turm extra weich gepolstert, ganz wie er es beantragt hatte, um seiner schauspielerischen Klasse einen angemessenen Rahmen zu bieten. Also auf ins Turmzimmer. Willy wandelte tänzerisch durch den Garten und stieg die Treppe zum Turm hinauf. Er wippte majestätisch mit der Schwanzfeder, um seinem Auftritt noch ein wenig Schwung zu verleihen. Ein paar melodische Pfiffe konnten auch nicht schaden. Das Publikum sollte doch nicht denken, dass er nur wegen seiner Schlafmützigkeit die Hauptrolle erobert hatte. Jetzt noch ein königlicher Knicks auf der obersten Treppenstufe vor seinen geneigten Fans und schon sah das Ganze wieder besser für ihn aus. An der Tür klopfte er nicht an, er drehte den rostigen Schlüssel einfach um und ging hinein. Die Bühne hüllte sich ins Dunkel und die Zuschauer verharrten in gespannter Erwartung.  

Der Vorhang öffnete sich wieder und nun sah man Willy Dornröschen am Spinnrad sitzen. Die 13. Fee saß neben ihm. Mit einem kräftigen Tritt gab Dornröschen dem Rad ordentlich Schwung, aber beim Aufwickeln des Fadens auf die Spule  stach es sich nach kurzer Zeit in den Flügel und sackte filmreif zusammen. Paul die 13. Fee Kauz bettete das Dornröschen auf ein himmelblaues Seidenkissen, deckte es  mit einer himmelblauen spitzenbesetzten Seidendecke zu  und nun ging Willy völlig in seiner Rolle auf. Genießerisch verdrehte er die Federohren, sank immer tiefer in sein Kissen ein und begann sanft hinwegzuschlummern. Was für eine Traumrolle! Der Vorhang fiel, aber nicht nur für unser gefiedertes Dornröschen.  

Der nächste Aufzug bot den Zuschauern einen Blick in ein gemütliches Gasthaus. Prinz Zwitschi saß mit der Eule Agathe an einem Tisch. Die beiden tranken Kaffee und plauderten angeregt. Die Eule erzählte ihm, dass es ganz in der Nähe ein verwunschenes Schloss gibt, in dem seit 100 Jahren alles schlief, und im Turm eine wunderschöne Prinzessin namens Dornröschen. "Wie kann man zu dieser wunderschönen Königstochter gelangen?", piepste Zwitschi. "Das ist sehr schwer. Viele Prinzen vor dir haben es versucht. Aber das schloss wird von einer dichten Dornenhecke umschlossen." "Ich will es wagen", verkündete Zwitschi mit stolz geschwellter Brust. Die Eule wünschte ihm viel Glück und der Vorhang fiel abermals. Das Publikum applaudierte und als sich der Vorhang wieder hob, war der Blick auf die nächste Szene frei:  

Zwitschi stand nun im Turmzimmer. "Die Hecke hat sich einfach vor mir auseinandergetan", sagte er erstaunt, "im Schloss schlafen alle. König, Königin, der Koch, der Küchenjunge, einfach alle, ich habe sie auf meinem Weg nach hier oben gesehen. Und hier liegt sie nun, wunderschön und schlafend - Prinzessin Dornröschen. Ich kann nicht anders, ich muss sie küssen." Willy hielt ganz still. Jetzt wurde ihm alles abverlangt. Wieso musste es unbedingt ein Kuss sein? Hätte es nicht auch ein nasser kalter Waschlappen getan? Aber es half nichts, gleich würde Zwitschi ... Jetzt bloß keine Miene verziehen Willy, sei ein wahrer Könner! Wenn du diese Szene meisterst, bist du ein ganz Großer deiner Zunft. Und Zwitschi beugte sich zu Dornröschen Willy hinunter, schloss die Augen, um sich vorzustellen, Willy wäre seine geliebte Krähe Gundula  und küsste ihn. Szenenapplaus brandete auf. "Wer wecket mich, ich träumte gerade so süß", fragte Dornröschen und kämpfte ein unkönigliches Gähnen nieder. "Ich, dein Prinz", sagte Prinz Zwitschi und machte eine elegante Verbeugung. Das Dornröschen setzte sich auf: "Du bist schön, mein Prinz, Begleite mich nach unten ins Schloss und wenn du willst, feiern wir gleich unsere Vermählung, bevor ich wieder einschlafe." Zwitschi nahm sein Dornröschen beim Flügel und sie stiegen die Treppe hinab. Der Vorhang fiel und als er sich wieder hob saßen alle munter plaudernd um den Tisch und aßen Pilzragout. Zwitschi sah seiner schönen Braut, die eine rosa Seidenrose hinter dem Ohr trug, verliebt in die Augen. Und Willy Dornröschen? Der lächelte zufrieden mit seiner Darbietung und träumte vom ganz großen Karrieresprung. Vielleicht sprach er im nächsten Sommer schon als Schneewittchen vor. Klar, das Anknabbern von Äpfeln, das musste er noch üben. Aber die Szene nach dem Biss in den Apfel, die konnte er schon im Schlaf.