Die Schneckentaufe

„Guten Morgen Zwitschi“, flötete Puh und kniff den kleinen Vogel in die rosa Schmuckfeder. „Morgen“, brummelte Zwitschi und zog die Decke, die Puh ihm gerade wegziehen wollte, mit seinem Schnabel zu sich heran. „Schlecht geschlafen?“, fragte der Zwerg, der eine derart miese Stimmung seines Vogelfreundes nicht gewohnt war. „Mmhhh“, fauchte sein gefiederter Mitbewohner mit geschlossenen Augen. „Wenn du nicht sofort deine Federn aus den Federn schwingst, kannst du das mit den Sonnenblumenkernen zum Frühstück vergessen“, drohte Puh lächelnd. Er wusste, was passieren würde und hatte sich nicht getäuscht. Zwitschi sprang, als hätte ihn ein Floh in den Hintern gebissen, aus dem Körbchen. Die Decke purzelte zu Boden und blieb dort liegen, denn der Vogel kümmerte sich nicht darum. Die Sonnenblumenkerne lockten ihn an den Frühstückstisch. Begierig steckte er den Schnabel in eine große Schale. „Na Zwitschi, wieder besser drauf?“, fragte Puh vorsichtig. Der Vogel nickte nur. Er hatte nicht vor seine Mahlzeit zu unterbrechen. Puh ließ ihn in Ruhe. Zwitschi war offenbar viel zu beschäftigt, um ihn zu antworten. Der Zwerg schmierte sich ein Marmeladenbrötchen und biss Herzhaft hinein. Ein lautes Aufheulen unterbrach die morgendliche Stille. Zwitschi hustete und flatterte aufgeregt mit den Flügeln. „Schrei doch nicht so“, prustete der Vogel nach einer Weile los. „Ich habe mich vor Schreck an einem Sonnenblumenkern verschluckt.“ „Du würdest auch schreien, wenn du mit deinem Schneidezahn auf so einen blöden Kirschkern gebissen hättest.“ „Das könnte mir nicht passieren, schließlich nenne ich keinen einzigen Zahn mein Eigen. Und wenn ich einen hätte, dann würde ich Marmelade mit von mir persönlich entkernten Kirschen meiden - zumindest jetzt, wo ich weiß, dass sie voller kleiner Überraschungen steckt“, meinte Zwitschi. Puh befühlte mit schmerzhaft verzogenem Gesicht seinen Schneidezahn. Noch mal Glück gehabt. er schien in Ordnung zu sein. „Weißt du, warum ich letzte Nacht nicht schlafen konnte?“, fragte Zwitschi. „Aha, er will ablenken“, dachte Puh und kraulte seinen Bart. „willst du es wissen?“, Zwitschi wurde ungeduldig. „Erzähl mal“, sagte Puh gutmütig und vergaß die Sache mit dem Kirschkern. „Die Schnecken wollen morgen ihren Nachwuchs von dir taufen lassen und ich soll das Wasser aus der Rosenquelle ...“ „Waaaas?“, Puh lief rot an. „Seit wann weißt du das?“, fügte er zischend hinzu und versuchte seine Wut zu unterdrücken. „... holen“, vollendete Zwitschi seinen Satz. Dann zwitscherte er kleinlaut: „Seit drei Wochen, ich hatte nur immer so viel zu tun und da hab’ ich ...“ Puhs Gesicht verfärbte sich lila. Zwitschi zog den Kopf ein und suchte das Weite. Er konnte ja Agathe nach der Quelle fragen oder irgendeinen anderen Waldbewohner. Auf den schlecht aufgelegten Zwerg konnte er verzichten. „Deine üble Laune kannst du auslassen an wem du willst, nur nicht an mir“, flötete der Vogel und startete durchs Fenster, bevor Puh mit einem Geschirrtuch nach ihm werfen konnte. Die Gesichtsfarbe des Zwerges nahm Kurs auf dunkelviolett und kleine grüne Sterne tanzten um seinen Kopf. Da half nur noch eins. Eine Tasse Pfefferminztee.

Zwitschi war im Garten vor Aufregung mit Pünktchen zusammengeprallt, das gerade ein saftiges Büschel Gras ausriss. „Was ist denn in dich gefahren?“, fragte das Reh erschrocken. „Puh ist lila“, kreischte Zwitschi und sein kleines Herz klopfte wild. „Lila?“, fragte Pünktchen, „was hast du wieder angestellt?“ „Nichts“, versicherte Zwitschi mit Unschuldsmiene. „Das glaubst du ja wohl selbst nicht.“ „Hab’ ich wirklich nicht. Ich hab’ ihm nur gerade gesagt, dass er morgen die Schneckenkinder taufen muss. Und da hat er sich verfärbt. Vermutlich läuft ihm die Zeit ein wenig davon. Aber das ist ja nicht meine Schuld.“ „Und wessen dann?“ „Puh hat natürlich Schuld. Woher soll ich denn wissen, dass er so etwas Simples wie eine Schneckentaufe nicht im Handumdrehen auf dem Kasten hat. Unser Wichtel ist ganz schön schnell überfordert. Findest du nicht auch? Ich frage mich, wozu er all diese Bücher hat.“ Pünktchen wandte sich missbilligend ab. Mit dem Reh konnte Zwitschi jedenfalls auch nicht rechnen. Er flog tief in den Wald hinein.

Am Waldsee saß sein Freund Hüpf und hörte den Grillen zu. „Guten Morgen Hüpf.“ „Guten Morgen Zwitschi. Schon unterwegs?“ „Klar, ich muss ja nach dem Wasser der Rosenquelle suchen, das wir morgen für die Schneckentaufe brauchen. Aber ich weiß noch nicht einmal, wo ich diese dumme Quelle finden kann.“ „Und Puh hilft dir nicht dabei?“, fragte Hüpf ungläubig. „Ach der, der ist schon mit den restlichen kleinen Vorbereitungen total überlastet. Den kannst du glatt vergessen.“ Das Eichhörnchen rollte mit den braunen Augen. „Zwitschi, was ist los?“, fragte es streng, „Normalerweise würde dir Puh doch wenigstens den Weg zur Rosenquelle erklären. Das passt nicht zu ihm.“ Der Vogel lief rot an. Flunkern war nicht gerade eine seiner Stärken, obwohl er es trotzdem immer wieder versuchte. Herumdrucksen konnte Zwitschi allerdings ganz gut, deshalb sagte er: „Na ja, er ist ziemlich schwer beschäftigt. Im Moment sucht er nach der Rede für morgen und legt keinen Wert darauf ausgerechnet von mir gestört zu werden.“ „Wieso macht er das in der letzten Minute“, fragte Hüpf. „Muss der immer so viel fragen?“, überlegte Zwitschi und sagte dann. „Weil er eben erst erfahren hat, dass er die Schnecken morgen taufen soll.“ „Wieso das denn?“, bohrte Hüpf weiter. „Na weil, na wegen, na, na, na, ...“ Hüpf wusste sofort, dass Zwitschi es versäumt hatte, Puh rechtzeitig Bescheid zu sagen. „Übrigens, weißt du zufällig, wo die Rosenquelle ist?“, fragte der Vogel und hoffte inständig, dass Hüpf mit dieser albernen Fragerei aufhörte. „Ja, weiß ich. Aber wenn es nicht um die Schnecken ginge, würde ich es dir trotzdem nicht verraten. Da könntest du den ganzen Tag auf und ab flattern und mir wäre es egal. Aber da die Taufe für die Schnecken wichtig ist, helfe ich dir.“ „Nur wegen der Schnecken?“, Zwitschi wollte es genau wissen. „Na vielleicht auch ein kleines bisschen, weil du mein Freund bist und im Grunde deines Vogelherzens auch ein prima Kerl.“ Zwitschi war hocherfreut. Er umschlang mit seinen Flügeln den Eichhörnchenfreund bis der Anstalten machte sich zu befreien.

Die beiden gingen zum Eichhörnchennest und holten eine kleine Flasche mit einem dunkelblauen Korken. Dort sollte das Wasser hinein. Über saftige Wiesen, durch dichte grüne Fichtenhaine, über Wurzeln und Steine, an klaren Bächen vorbei durchstreiften sie den Wald. „Woher kennst du den Weg so genau?“, fragte Zwitschi. „Den gehen wir Eichhörnchen alle Jahre. Das Wasser der Rosenquelle macht unser Fell so weich und glänzend. Einmal im Jahr, und zwar genau am Frühlingsanfang, versammeln sich alle Eichhörnchen des Zauberwaldes an der Rosenquelle, um dort ihr Fell zu putzen.“ „Toll“, jubelte Zwitschi schwärmerisch, „funktioniert das auch bei Federn?“ „Ich weiß nicht“, sagte Hüpf nachdenklich. „Probieren würde ich es lieber nicht. Womöglich fallen sie dir aus.“ Zwitschi gab keine Antwort, beschloss aber, das Gegenteil von dem zu tun, wozu Hüpf ihm geraten hatte. Als sie an einer großen Ansammlung von Fliegenpilzen vorüberkamen, sah Zwitschi in der Ferne ein merkwürdiges rotes Leuchten. „Was ist das?“, fragte er verwundert. „Das ist das Leuchten des Rosenwassers. Es ist hellrot und duftet wie ein Rosenmeer. Daher hat die Quelle ihren Namen.“ „Was du alles weißt“, sagte Zwitschi bewundernd und folgte Hüpf auf dem Fuß. Der Weg zog sich noch lange hin. Zwitschi schwitzte und am liebsten hätte er sich ausgeruht. Wahrscheinlich hatte er zuviel zum Frühstück gefuttert. Aber Hüpf trieb ihn weiter. Endlich standen sie vor einem weißen Felsen aus dem herrlich duftendes hellrotes Wasser sprudelte. Hüpf öffnete die kleine Flasche und füllte sie voll. Dann verschloss er sie sorgfältig. „Ist es hier nicht herrlich?“, fragte das Eichhörnchen und sah verträumt in den ebenfalls hellrot schimmernden Himmel. „O weh, O weh“, Zwitschi hüpfte aufgeregt im Gras herum und Hüpf wurde aus seinen Gedanken gerissen. Wie sah der Vogel nur aus. Seine ehemals blauen Federn waren jetzt grün. „Warst du etwa im Wasser?“, fragte das Eichhörnchen. „Leider“, jammerte der Vogel und sah entsetzt an sich herunter. „Aber grün kann ich nicht leiden. Wieso ausgerechnet grün. Warum nicht lila wie Puh?“ „Was hab’ ich dir gesagt“, schimpfte Hüpf. „Das brauchst du nicht zu wiederholen, ich weiß schon“, wimmerte Zwitschi. „Komm, wir gehen zurück“, sagte das Eichhörnchen bestimmt. „Ich will nicht zurück, ich bin hässlich!“, Zwitschi stampfte mit den kleinen Beinchen auf. „Ach komm schon Zwitschi, so schlimm ist es auch wieder nicht. Wir gehen jetzt!“ „Ich will aber nicht!“ „Du kommst trotzdem mit. Puh braucht dich und ich lass’ dich hier nicht allein.“ „Ich bin so hässlich“, jammerte der Vogel. „Du bist der hübscheste Vogel, den ich kenne. Ob grün, ob blau, ist doch egal.“ „Mal angenommen, du wärst ein Vogelweibchen, würdest du mit mir ausgehen?“, Zwitschi war verunsichert. „Klar“, versicherte ihm Hüpf und nickte bekräftigend. „Und würdest du mich auch deiner Mutter vorstellen?“, bohrte Zwitschi weiter. „Na ja, also weißt du ...“ „Hab ich es doch gewusst“, knurrte Zwitschi. Hüpf sagte: „Natürlich würde ich, und nicht nur meiner Mutter, auch meinem Vater, meinen Geschwistern, einfach allen, die ich kenne ...“ Wie gut, dass Hüpf ein wenig flunkern konnte, sonst hätten sie hier übernachten müssen. Auch wenn er es nicht gern getan hatte, Zwitschi war jedenfalls beruhigt und sie Konnten sich endlich auf den Rückweg machen.

Puh hatte inzwischen in seiner Bibliothek gewütet. Sämtliche Bücher lagen auf dem Boden verstreut. „Wenn dieser verflixte Vogel eher etwas gepfiffen hätte“, dachte der Zwerg. Seine Gesichtsfarbe war inzwischen in hellrot übergegangen. Nur wenn er an den Vogel dachte leuchtete seine Haut dunkelrot auf. Und so ging es lange hin und her. Hell - dunkel - hell - dunkel. Immer abwechselnd. Im siebenundfünfzigsten von zweiundsiebzig Büchern fand er, was er suchte. Draußen wurde es langsam dunkel und der Zwerg sorgte sich um seinen Vogelfreund. Wo mochte Zwitschi stecken? Fand er zurück nach Hause? Hatte er sich verirrt? Als er die Tür öffnete und in den Zwergengarten hinaustrat, kam ihm ein kleiner grün gefiederter Vogel in der Begleitung von Hüpf entgegen. „Hallo puh“, rief Zwitschi. Puh riss die Augen weit auf. Sollte das sein schöner blauer Zwitschi sein? „Bist d d du es?“, stotterte er irritiert. „Ja ist er“, sagte Hüpf, „seit seinem Bad in der Rosenquelle sieht er so aus.“ Puh lachte. „Ich mag kein grün“, quengelte Zwitschi und verzog das Gesicht. „Ich glaube das gibt sich. Warte mal fünf Wochen und schon bist du wieder blau“, lächelte der Wichtel. „Fünf Wochen?“, fragte Zwitschi entsetzt. „Oder sind es sieben?“, überlegte Puh. „Nein zehn sind es! Das habe ich erst gestern in der Waldzeitung gelesen“, mischte sich Pünktchen ein, dem es Spaß machte, Zwitschi zu ärgern. Der arme Vogel hatte die Flügel über dem Kopf zusammengeschlagen. „Soll ich es ihm sagen?“, fragte Puh in die Runde. „Nö“, maulte Hüpf, der Gefallen an Zwitschis entsetzt aufgerissenem Schnabel gefunden hatte. „Zwitschilein, flieg mal unter den Springbrunnen“, sagte der Zwerg. Der Vogel hätte alles für ein blaues Gefieder getan. Deshalb ließ er sich ohne Protest unter den Strahlen des Springbrunnens nieder. „Ist das kalt“, jammerte er. Aber als er die ersten blauen Federn hervorgucken sah, blieb er mutig sitzen. „Blau, blau“, rief Zwitschi begeistert, „alles wieder schön blau.“ Die anderen lachten. „Was ist das?“, rief Pünktchen und starrte in den Himmel. Staubwolken wehten um die Äste der Kastanie und wenn man die Ohren spitzte, konnte man das leise Fluchen hören. „Hausputz ist so doof! Raus aus meinem Nest ihr dummen Wollmäuse! Ich hab’ euch schließlich nicht eingeladen, verflixt und zugefedert!“ Willy hustete, weil ihm die Staubflocken im Schnabel herumschwirrten. Eine Schwanzfeder tauchte auf und danach Willy mit dem Staubbesen, den er zwischen den Flügeln hielt und ausschüttelte. Das Käuzchen bemerkte den Auflauf im Zwergengarten, schob den Besen ins Nest zurück und flatterte vom Baum. „Hallo Freunde“, rief es außer Atem und gesellte sich zu ihnen. Und so saßen sie noch lange beieinander. Puh, Zwitschi, Willy und Hüpf auf der Gartenbank und Pünktchen im Weichen Gras daneben.

Am nächsten Tag versammelten sich viele der Waldbewohner bei Familie Schnecke. Vater Kriechi und Mutter Häuschen hatten ihre Schneckenhäuser violett bemalen lassen und präsentierten stolz ihren Nachwuchs. Die sieben Schneckenkinder lagen im weichen Gras vor dem Pilz und dösten in der Mittagssonne, die ein wenig durch die hohen Bäume blinzelte. „Sind sie nicht wunderschön?“, fragte der Igel Stachelchen und verdrückte eine Träne der Rührung. „Ja, das sind sie“, stimmte ihm Agathe zu. Die Eule hatte schon viele kleine Schnecken gesehen, aber diese Sieben mit ihren purpurroten Häuschen, waren zweifellos die schönsten. Die Schneckeneltern taten so, als hätten sie es nicht gehört. Aber man sah ihnen an, wie stolz sie waren. Hüpf durfte Puh zur Hand gehen. Während der Zwerg die Rede hielt und die sieben Namen nannte, tropfte er jeder kleinen Schnecke einen Tropfen des Rosenwassers auf das Häuschen. Kriechi und Häuschen bedankten sich herzlich und strahlten mit der Sonne um die Wette.

„Hab’ ich das nicht gut gemacht?“, wollte Zwitschi auf dem Heimweg wissen. „Ja, dir gebührt das größte Lob“, sagte Puh und lächelte in sich hinein. Er hatte nämlich keine Lust mit dem Vogel zu diskutieren und wollte lieber die Geräusche des Zauberwaldes genießen. „Ach übrigens, ist dir aufgefallen wie hervorragend die Häuser der Schneckeneltern zu deiner gestrigen Gesichtsfarbe gepasst haben?“, flötete der Vogel. Doch als er sah, dass der Zwerg hellrot anlief, hielt er lieber seinen vorlauten Schnabel.