Lügen haben keine blauen Federn

Puh saß auf der Gartenbank vor dem Zwergenhaus und hielt zufrieden schmunzelnd eine strahlend blaue Perlenkette in die hoch stehende Mittagssonne. „Die ist mir wirklich gut gelungen. Und dieses Blau! … Es leuchtet so prächtig wie Luzies schmucke Zöpfe“, lobte sich der Zwerg und legte die Kette vorsichtig zu dem Perlenarmband in das mit hellblauem Samt ausgekleidete Schmuckkästchen. Versonnen lehnte er sich danach auf seiner Bank zurück und schloss die Augen. Luzie, das kleine Wichtelfräulein, wie schön würde sie erst aussehen, wenn sie diesen Schmuck zum morgigen Sommernachtsball trug. Leider würde Puh sie dort nicht sehen, denn er wagte sich nicht hin. Er hatte lange darüber nachgegrübelt, aber es ging wirklich nicht. Und so holte er das hellblaue Briefpapier und einen Füllfederhalter aus dem Haus und begann zu schreiben.

Liebe Luzie,

gerne wäre ich morgen mit dir auf den Ball gegangen. Es tut mir sehr leid, dass ich dich nicht begleiten kann, aber ein schrecklicher Hexenschuss fesselt mich ans Zwergenhaus. Nun bitte ich dich, diesen mit viel Liebe von mir angefertigten Schmuck morgen auf dem Fest zu tragen und wenn du mit den anderen Waldbewohnern und Wichteln tanzt an mich zu denken.

Mit einer Träne im Knopfloch

Dein Puh

Noch einmal las der Zwerg die Zeilen sorgfältig durch. Da zwitscherte es neben ihm: „Was gibt’s denn da zu schreiben?“ Zwitschi! Dieser kleine freche blaue Vogel. Musste er denn immer auftauchen, wenn man ihn so überhaupt nicht brauchen konnte. Andererseits, wann sollte sein Gefiederter Hausgenosse denn sonst auftauchen, denn so wirklich brauchte ihn Puh ja eigentlich nie. Mit flinken Fingern versuchte der Zwerg das Blatt um das Schmuckkästchen zu wickeln ohne dass Zwitschi dessen Inhalt gewahr wurde. „Bemüh dich gar nicht erst“, piepste der kleine Vogel gönnerhaft, „ich sitz schon seit zehn Minuten auf der Lehne neben dir und hab sowieso schon alles gelesen. Wieso hast du mir denn nichts davon gesagt, dass dich die Hexe geschossen hat? Ich hätte dir ein paar wärmende Umschläge machen können.“ „Bloß nicht“, entfuhr es Puh. Und bei dem Gedanken, welche Pflege nach Zwitschis Krankenpflege die Zwergenküche nötig haben würde, wandte er sich ruckartig zu ihm um. „Komischer Hexenschuss“, meinte Zwitschi und zog die Stirn kraus. „Also schön, du hast gewonnen. Es gibt gar keinen Hexenschuss“, resignierte Puh. „Dann belügst du Luzie?“, fragte Zwitschi und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Ich lüge doch nicht. Ich flunkere nur ein wenig“, verteidigte sich der Zwerg. „Aha, du flunkerst also. Das ist natürlich etwas ganz Anderes“, sagte der kleine Vogel hämisch, „hat diese, deine Flunkerei vielleicht mit dem Tanzstundengutschein zu tun, den du Wuschel vor einem halben Jahr überreicht hast mit der Begründung: Nimm du ihn, so was hab ich doch nicht nötig?“ Verflixt noch mal. Woher wusste der kleine Vogel denn davon. Das war doch bei Nacht und Nebel gewesen und Zwitschi hatte längst in seinem Schlafkorb gelegen ... Halt, ja, jetzt fiel es Puh wieder ein. Willy Kauz hatte ihn dabei ertappt. Und dessen Stillschweigen hatte sich der Zwerg auch noch mit einer Nugatpraline erkauft. Welche Fehlinvestition. „Gut, ich geb' es zu. Ich habe den Tanzkurs nicht absolvieren wollen und morgen, zum Sommernachtsball käme alles raus. Luzie würde mich tanzen sehen und dann gäbe es mächtigen Ärger. Schließlich habe ich ihr schon erzählt, wie viel Spaß ich an linker Fuß vor, zur Seite, rechter Fuß vor und ranziehen habe.“ „Aha“, sagte Zwitschi nur und dachte nach. Puh hatte unterdessen das Papier um das Schmuckkästchen gefaltet und das Ganze mit Klebeband versiegelt. So war sein Brief auf keinen Fall zu übersehen. „Und nun hole ich noch eine schöne rosa Seidenschleife für das Paket“, sagte der Zwerg und verschwand flugs in der Küche. Der kleine Vogel hatte inzwischen einen Entschluss gefasst. Er konnte nicht zulassen, dass Puh nicht mit Luzie zum Ball ging. Schließlich hatte sich der Zwerg die Suppe mit der oder besser gesagt ohne die Tanzstunde ganz allein eingebrockt. Und dieses Süppchen sollte der Zwerg auch ganz allein auslöffeln. Jedenfalls würde Zwitschi ihn bei seinen Lügengeschichten nicht auch noch unterstützen. Das konnte er mit seinen Gewissen nicht vereinbaren. „So mein Guter, jetzt entferne ich deine nette Mogelverpackung von der Schmucksendung“, sagte Zwitschi entschlossen und verschwand unter dem nur leicht aufgelegten Deckel im Karton. Unter einem Berg Holzwolle erschnabelte der kleine Vogel endlich das Objekt seiner Begierde. War das kompliziert, als suche man eine Nadel im Heuhaufen. Aber nun musste der unheilvolle Brief noch abgepult werden. Der Zwerg hatte sich zu Zwitschis Bedauern alle Mühe gegeben und das Schmuckkästchen fest umwickelt. Und das Klebeband, das den Brief am Kästchen hielt, war auch ungewöhnlich hartnäckig. Und so vertickten die Minuten wie im Flug. Endlich hatte der kleine Vogel das Papier entfernt. Gerade wollte er mit seiner Eroberung aus dem Paket emporsteigen, da hörte er die Haustür zuschlagen. Puh kam in den Garten zurück. „Nun muss ich hier drin hocken bleiben und versuchen, Konfetti aus seiner Flunkerbotschaft zu machen, denn wenn er mich dabei ertappt, wie ich mit ihr aus dem Paket fliege, reißt er mir alle Federn einzeln aus.“ Puh hatte das Schleifenband geholt, maß das Paket mit den Augen und schnitt ein großes Stück rosa Seidenschleife ab. Zwitschi wagte kaum zu atmen. Wie erstarrt hockte der kleine Vogel inmitten der Holzwolle und betete inständig, dass sich der Deckel nicht noch einmal heben möge. Endlich verschloss Puh den Karton und band die Schleife darum. Komisch. Irgendwie hatte die Sendung an Gewicht zugelegt. Oder wog seine Lügenbotschaft so schwer? Die Walduhr schlug zwei Uhr Mittags. Jetzt aber nichts wie schnell hinein ins Zwergenhaus. Hüpf, der diese Woche den Postdienst im Zauberwald übernommen hatte, würde bestimmt gleich aufkreuzen und Puh war sich nicht sicher, ob es ihm gelang das Eichhörnchen von seinem angeblichen Hexenschuss zu überzeugen. Schließlich war es ja schon bei Zwitschi gründlich schief gegangen. Apropos? Wo steckte diese kleine blaue Nervensäge eigentlich? Na ja, war ja auch egal, spätestens, wenn Puh die Himbeeren auslas, würde sich Zwitschi schon wieder einfinden. Gerade hatte der Zwerg die Tür hinter sich zugeschlagen, als das Eichhörnchen mit dem Posthandwagen in den Zwergengarten kam. Hüpf lud das hellblaue Paket mit der rosa Seidenschleife auf, bemerkte, dass es für Luzie war und klagte: „Jetzt muss ich auch noch in den Wichtelwald.“ Da lugte etwas kleines, braun-weiß Gefiedertes verschlafen aus dem Kauzennest. „Ich könnte dich ja ein Stück begleiten“, sagte Willy Kauz, „zu zweit macht die Wanderung bestimmt Spaß.“ Hüpf erwiderte erfreut: „Das ist wirklich nett von dir Willy." Und der Kauz flog von seiner Kastanie herunter, reckte und streckte sich ein wenig und flatterte dann neben dem Eichhörnchen, das den gelben Posthandwagen zog, her.

Willy kam allmählich in Stimmung. Bei jedem Flügelschlag wurde er von den vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich durch das dichte Blätterdach des Zauberwaldes gedrängt hatten, sanft gestreichelt. Es war eine gute Idee gewesen, der wohligen Wärme seiner grünen Zudecke mit den großen gelben Sonnenblumen zu entschlüpfen und sie gegen diesen herrlichen Sommertag einzutauschen. „Trari, trara, die Post ist da“, tönte Willy gut gelaunt. Hüpf pfiff erst begeistert mit, aber nach einer halben Stunde, in der Willy immer wieder nur diese eine Zeile sang, machten sich langsam Ermüdungserscheinungen bei ihm bemerkbar. Das Eichhörnchen blieb stehen, da sie nun das Eulennest erreicht hatten. Das nutzte der Kauz um sich ein wenig umzuschauen. „Was ist denn wohl in dem großen Karton an Luzie hier?“, fragte er neugierig. „Großes Postgeheimnis“, antwortete das Eichhörnchen verschwörerisch. „Und hier, in dem kleinen an Wuschel“, fragte Willy neugierig weiter. „Da ist nur ein kleines Postgeheimnis drin“, kicherte das Eichhörnchen. „Aber du kennst die Geheimnisse oder?“, fragte der Kauz interessiert. Vielleicht sollte er sich auch mal um diesen Ferienjob bei der Waldpost bewerben. Doch gleich folgte die ernüchternde Antwort. „Ein Postbote darf nie wissen, welche Sendungen er austrägt.“ „Aber ich bin doch kein Postbote und darf es bestimmt wissen. Ich verrat's dir auch nicht, wenn ich es herausgefunden habe“, meinte Willy und wollte sich gerade auf Puhs großem Karton niederlassen. „Hiermit befördere ich dich zu meinem persönlichen Luftpostassistenten“, sagte Hüpf, „und somit unterliegst du auch dem Postgeheimnis.“ Und damit schob er Willy einen Brief in den Schnabel. „Den bringst du bitte Agathe ans Nest“, erteilte das Eichhörnchen seinem Assistenten eine erste Aufgabe. Willy schwang sich zum Eulennest empor und lieferte die Sendung ab, während Hüpf angespannt lauschte. Hatte er nicht als sie angehalten hatten Zwitschi sagen hören: „Was für eine unangemessene Beförderung.“ Aber da hatten ihm sicherlich seine von Willys andauerndem Gesinge strapazierten Nerven einen Streich gespielt. Kaum war Willy wieder da, schmetterte er aus voller Kehle: „Hoch auf dem Gelben Wagen“. Der Kauz war sichtlich stolz auf seine Berufsbezeichnung - Luftpostassistent. Das klang wie Musik in seinen Ohren. Dafür hielt er sogar seinen neugierigen Schnabel von den Sendungen fern. Nur leider nicht von Hüpfs gestressten Ohren. „Lustig schmettert das Horn …“, sang der Kauz. Der Einzige, der hier lustig schmetterte, war Willy. Hüpf schickte flehende Blicke zu seinem Begleiter hinüber, doch der übersah sie einfach. Und sie hatten noch nicht einmal den Zauberwald verlassen. Ferienjobs konnten sehr, sehr anstrengend sein. Hoffentlich bekam er eine Haselnusszulage wegen der erschwerten Bedingungen, denen er ausgesetzt war. Der nächste Brief war für Gundula, die freundliche Krähe, bestimmt. Also, jetzt eine Biegung nach links, dann den kleinen Waldweg hoch und dann nach rechts. Der Handwagen wurde auch nicht leichter. Hüpf bot seine gesamte Kraft auf, um das Postgefährt von der Stelle zu bewegen. Wo war eigentlich Willy abgeblieben? Seit fünf Minuten sang er nicht mehr neben Hüpf. Nicht dass das Eichhörnchen viel Wert auf Willys Sangeskünste gelegt hätte ... Hatte der Kauz sich etwa verkrümelt, jetzt wo Hüpf jemanden brauchen konnte, der den schweren Handwagen wenigstens ein bisschen schob. „Komm ran hier Willy und schieb mal ein wenig“, keuchte das Eichhörnchen, „mir geht bald die Puste aus.“ Keine Feder rührte sich. Es half nichts, Willy half nicht, da musste sich Hüpf eben alleine helfen. Nach ein paar weiteren kräftigen Zügen an der Deichsel hatte Hüpf das Krähennest endlich erreicht. Das Eichhörnchen atmete erleichtert auf und verschnaufte ein Weilchen. Aber diese Buche da hinauf? Ausgeschlossen! Das konnte sein Hilfspostbote ruhig übernehmen. Hoffentlich war der Kauz ihm gefolgt. „Willy, liefere die Sendung bitte bei Gundula am Nest ab.“ Keine Antwort. Das Eichhörnchen drehte sich herum. Irgendwo musste sein gefiederter Luftpostassistent doch zu finden sein. „Was machst du denn da!“, schrie Hüpf entrüstet, als er den Kauz friedlich schlafend im Handwagen erblickte. Immer noch zuckte nicht eine Feder, Hüpf sah einen großen Stein auf dem Weg liegen. Da fahr ich jetzt drüber, dachte er, dann rüttelte es diese mützende Schlafpost oder schlafende Postmütze oder vielleicht auch diese Postschlafmütze, ganz egal, hoffentlich aus ihren Träumen. Zack, das schepperte ordentlich. „So ein furchtbarer Lieferservice! Wenn ich heute frische süße Sahne getrunken hätte, käme bestimmt Schlagsahne aus meinem Schnabel, so wie ich hier andauernd durchgeschüttelt werde“, konnte Hüpf genau im dem Augenblick vernehmen, als der Handwagen vom Stein hinunter auf den Waldboden gekracht war. Aber das war doch nicht Willy. Hatte da nicht eben Zwitschi geplärrt …? Unmöglich, wo sollte der denn sein. Verwirrt sah sich das Eichhörnchen um. Keine blaue Feder in Sichtweite. Aber Willy hatte garantiert auch nichts gesagt. Der Kauz war nur auf die andere Seite gekippt und schlief weiter. Wahrscheinlich hatte sich Hüpf das alles nur eingebildet. Also noch einmal vor und zurück über denselben Stein. Wenn das Eichhörnchen den Kauz nicht wach bekam, musste es erstens Gundula selbst den Brief zustellen und zweitens hatte es Willy für den Rest der Zustellroute aufgeladen. Und noch einmal über den Stein und noch einmal, Willy verflixt, wach doch auf. So fest konnte doch keiner schlafen. „Vielleicht hätte ich die Aufschrift „Vorsicht lebende Fracht“ an das Päckchen kleben sollen, bevor ich hineingestiegen bin“, piepste es wütend. Hüpf stellte erneut erstaunt die Ohren auf. Das war doch Zwitschi gewesen, bei allen Haselnüssen. In diesem Momentriss Willy den Schnabel auf und fragte: „Könntest du mich noch ein wenig weiter in meinen Träumen wiegen?“ Nun galt es den Kauz irgendwie abzuschütteln. Die Post war ohnehin schon schwer genug. Das Eichhörnchen überlegte kurz und sagte dann: „Aber herzlich gern. Jedoch, zuerst mein lieber Willy, bringst du bitte Gundula diesen Brief hier, bevor ich dich wieder in den Schlaf schaukeln werde.“ Und damit schob Hüpf dem Kauz die Briefsendung für die Krähe in den vom Gähnen bereits offen stehenden Schnabel. Kaum war Willy in die Lüfte aufgestiegen, flitzte das Eichhörnchen auf flinken Pfoten über Stock und Stein davon. Hauptsache das gefiederte Sperrgut musste nicht mehr transportiert werden. „Verflixt und zugefedert“, schimpfte Zwitschi im Karton, „das ist eine obermiese Zustellung. Jetzt kann ich nachfühlen, wie es diesem armen Schmuckkästchen hier geht.“ Umgeben von lauter Konfetti saß der kleine Vogel in der Holzwolle und hoffte, dass der Bestimmungsort für das Paket bald erreicht war. Da spürte er schon wieder eine gewaltige Erschütterung. Hüpf war über einen Baumstumpf gefahren. „Das nächste Mal buche ich erste Klasse, wenn es ein nächstes Mal gibt.“ Hüpf vermeinte schon wieder die zeternde Stimme des kleinen blauen Vogels zu hören. Offenbar schnappte er langsam über. Dieser Postferienjob war nicht ganz das Richtige für ihn. Zum Glück tauchte Luzies Haus endlich vor ihm auf. Er läutete die Glocke und Luzie nahm ihm strahlend das Paket ab.

Puh hatte an sie gedacht. Das konnte sie am Absender ablesen. Und welche Mühe er sich mit der Verpackung gegeben hatte. Mit spitzen Fingern löste sie die rosa Seidenschleife und nahm den Deckel ab. „Hallo Luzie“, wurde sie von Zwitschi begrüßt. Der kleine Vogel war sichtlich erleichtert, als er endlich wieder Tageslicht sah. Luzie wich vor Schreck zurück. Hatte sie einen Geist gesehen? Oder war das wirklich Puhs blau gefiederter Hausgenosse, der da im Paket saß. Zwitschi entstieg dem Karton. „Nicht erschrecken. Ich bin nur der Liebesbote. Puh lässt dir nämlich ausrichten, dass er sich freut, dich auf den Sommernachtsball zu begleiten. Es wäre ihm eine Ehre, dort mit dir zu tanzen. Bitte hole ihn morgen um fünf Uhr nachmittags am Zwergenhaus ab und vergiss nicht dir den Schmuck aus diesem kleinen Kästchen anzulegen.“ Luzie war verblüfft. „Und wieso hat er dich eingepackt und mir nicht einfach geschrieben?“, fragte sie. „Die Tinte war ihm ausgegangen, nachdem er den Karton an dich adressiert hatte“, sagte Zwitschi hastig. „Aha, und wieso bist du nicht zu mir geflogen?“, bohrte sie weiter. „Weil ich unbedingt einmal einen Transport per Waldpost genießen wollte - übrigens, das ist noch aufregender als fliegen, so durchgerüttelt hat mich selbst der wildeste Herbststurm noch nicht.“ „Na schön“, meinte Luzie ergeben. In diesem hübschen blauen Köpfchen gingen offenbar Dinge vor sich, die ein Wichtelfräulein nicht verstand. Und dann öffnete sie das Schmuckkästchen. Kette und Armband in einem leuchtenden Dunkelblau - passend zu ihren Zöpfen. Sie legte den Schmuck an und betrachtete sich wohlwollend im Spiegel. Glückstrahlend begann sie sich zu drehen. Puh hatte ihren Geschmack getroffen. „Sage ihm, dass ich ihm herzlich danke und ihn morgen zum Ball abhole“, strahlte sie und gab Zwitschi zum Dank fünf frisch geerntete Himbeeren aus ihrem Garten. „Für meinen gefiederten Amor“, sagte sie lächelnd und streichelte Zwitschi über die Federn.

Der kleine Vogel machte sich auf den Heimweg. Doch das Geschüttel und Gerüttel während seines Posttransportes hatte ihn zu sehr beansprucht. Er kam nur bis zur nächsten Bank. Dort musste er sich erst einmal, von Schwindel geplagt, ausruhen. Der Tag verging, die Nacht kam. Noch immer schlief Zwitschi auf der Bank im Wichtelwald. Und Puh? Der Schlief auch, allerdings in seinem Zwergenbett. Drei Stunden hatte er nach seinem gefiederten Freund gesucht. Doch weder Willy, noch Hüpf, noch die Eule Agathe oder die Hasenkinder hatten ihn gesehen. Mochte er stecken, wo er wollte. Der Zwerg war viel zu müde, um darüber nachzudenken. Gegen Mittag, als das frische Gemüse in der Pfanne brutzelte, meldete sich eine freche blaue Vogelstimme zurück mit den Worten: „Was gibt’s zu futtern?“ „Gemüsepfanne“, sagte Puh. „Kein Interesse“, erklärte Zwitschi bestimmt und flog zu den Himbeersträuchern hinüber. Da würde er keine einzige mehr finden. Puh hatte gestern Abend alle abgeerntet und verarbeitet. „Was soll das“, kam der kleine Vogel von seiner Erkundungstour zurück. „Ich habe sie gestern alle gepflückt“, erklärte Puh und breitete hilflos die Arme aus. „Und nicht eine vergessen, du Geizkragen“, schimpfte Zwitschi, „du solltest dir ein Beispiel an Luzie nehmen.“ Puh schaute ihn überrascht an. „Wie kommst du auf Luzie?“, fragte er. „Hab ich Luzie gesagt? Ich meinte Willy. Willy hat mir vor zwei Tagen sieben Stück geschenkt.“ Und damit verschwand er. Es war zu riskant in der Nähe des Zwerges zu bleiben, er hatte sich gerade schon verplappert. Die Überraschung sollte allein Luzie gehören, Auch wenn sie nichts davon ahnte.

Der Tag rückte vor und die Walduhr schlug Viertel vor fünf. Puh schnitt seine Hecke und war ganz vertieft in seine Arbeit. Da rief es über den Gartenzaun: „Das ist doch hoffentlich nicht dein Ausgehanzug!“ Puh sah erschrocken auf. War das nicht Luzies Stimme? Das war nicht nur Luzies Stimme. Das war Luzie. Und wie wunderschön sah sie aus. Ihr langes Haar trug sie offen und die elegante weiße Seidenbluse mit dem trichterförmigen Spitzenausschnitt stand ihr ausgezeichnet. Dazu trug sie eine schwarze, weit geschnittene Hose und ebenfalls schwarze Lacklederballerinas. Ihren Ausschnitt und ihr Handgelenk zierten Puhs Schmuckstücke. Dem Zwerg stand vor Erstaunen der Mund offen. Er konnte sie nur ansehen. Und dann sah er an sich herunter. Grüne Latzhose, gelbe Gartenschürze, weißes T-Shirt und dreckige Schuhe von unbestimmter Farbe. Mal sehen, welche zum Vorschein kam, wenn er sie eines Tages putzte. Aber halt. Was machte eigentlich das Wichtelfräulein hier in seinem Garten? Mit Luzie hatte er nun ganz und gar nicht gerechnet. Er hatte ihr doch abgesagt. „Wwwas machst du dddenn hier“, stotterte er, „hast du meinen Brief nicht gelesen?“ „Welchen Brief?“, fragte Luzie erstaunt, „ich dachte, du konntest mir nicht schreiben, weil dir die Tinte ausgegangen war.“ „Wie kommst du denn darauf?“, war Puh verblüfft. „Das hab ich von Zwitschi. Du hast ihn mir doch geschickt, damit er mir sagt, dass ich dich abholen soll.“ Ach so war das! Zwitschi! Puh hob hilflos die Schultern. „Na was ist nun? Ziehst du dich jetzt endlich um oder soll ich mich mit dir heute Abend blamieren?“ „Das wirst du sowieso, ob umgezogen oder nicht“, murmelte Puh und schleppte sich ins Zwergenhaus. Als er nach einer halben Stunde wieder zum Vorschein kam, sah er umwerfend aus. Puh trug eine beige Sommerhose, dazu ein leuchtend grünes Hemd und braune elegante Halbschuhe. „so hab ich mir meinen Galan heute Abend vorgestellt“, stellte Luzie sichtlich zufrieden fest und küsste ihn auf beide Wangen. „Das kann ich mir nun wiederum überhaupt nicht vorstellen“, murmelte Puh, „wenn du wüsstest.“ Luzie schien es zu überhören. Sie hakte sich bei ihrem Begleiter unter und sie gingen zusammen zum Ball.

Als sie am Waldsee ankamen, war der Sommernachtsball schon im vollen Gange. Die Frösche und die Hasenfamilie musizierten miteinander und Zwitschi hatte zusammen mit Gundula bereits beim ersten gespielten Ton die Tanzfläche geentert. Am liebsten hätte Puh sich den kleinen Großschnabel einmal gründlich vorgeknöpft, aber war er nicht selbst an seiner misslichen Lage schuld? Wer hatte denn die Tanzstunden nicht genommen und Luzie vorgeschwärmt, wie überaus schön sie sind. „Hallo ihr beiden“, begrüßte er seinen Koboldfreund Wuschel, der sich mit Kitty zu einem langsamen Walzer im Dreivierteltakt wiegte. Das Wichtelfräulein trug ein sonnengelbes Kleid, das ihr ganz ausgezeichnet stand und Wuschel hellblaue Hosen und ein Hemd in Apricot. Sie hatten sich richtig in Schale geschmissen. „Hallo Puh“, grüßten sie zurück. Und Kitty strahlte übers ganze Gesicht: „Ist er nicht ein toller Tänzer, mein Wuschel.“ „Ja“, stimmte ihr Luzie zu, „das ist er. Aber warte mal ab, was Puh auf die Waldwiese legt. Schließlich hat er ja Tanzstunden genommen.“ Der Zwerg zwinkerte Wuschel heimlich zu und sein Koboldfreund verstand. Verschwörerisch legte er einen Finger an die Lippen. Von Wuschel drohte Puh kein Ungemach, aber … „Komm schon Puh, zeig was du gelernt hast“, forderte ihn Luzie auf. Wie lange konnte er sich ihr widersetzen. Gerade wurde ein Foxtrott gespielt. „Ach Luzielein, diese Nummer ist viel zu primitiv für mich. Ich steige bei schwierigeren Tänzen ein“, meinte Puh und strebte schleunigst dem Stand mit der Himbeerlimonade zu. „Ein Glas Limo hätte ich gern“, verlangte er und Grabi, der kleine Maulwurf, schenkte es aus. Puh trank sehr langsam und als es leer war, sagte er: „Hab ich heute einen Riesendurst. Ich hole mir noch eine Limo.“ „Ach komm schon Puh, wir sind doch nicht zum Limotrinken hier, wir wollen doch tanzen.“ „Warte ein Weilchen meine Liebste, die Nacht ist noch jung. Ich bin noch nicht so recht in Stimmung. Meine Zeit wird kommen. Ich warte auf eine schwungvolle Nummer für den Anfang. Mit dieser langweiligen Rumba hier kann ich nichts anfangen.“ „Aha, nicht Foxtrott, nicht Rumba, was willst du dann“, Luzie wurde langsam ungeduldig. „Ich werde erst beim Twist einsteigen“, erklärte Puh und hoffte inständig, dass keiner gespielt wurde. „Ein Twist wird gewünscht“, rief Grabi der Band zu, die gerade eine Pause machte, und glaubte damit Puh einen Gefallen zu tun. Und die Band fing nach der Pause prompt an den gewünschten Twist zu spielen. „Das ist doch kein Twist“, versuchte sich Puh herauszuschlängeln, „das ist allenfalls ein ... ach ist ja auch egal, was es ist … zumindest ist es schon mal kein Twist!“ Luzie hörte sich das nicht mehr länger mit an. Sie zog ihn hinter sich her. „Die vielen Tänzer um mich herum machen mich ganz nervös“, sagte Puh, der noch immer keinen einzigen Schritt gesetzt hatte. Da stoben sie auseinander. Schließlich wollte keiner Puhs tänzerischer Entfaltung im Wege stehen. Jetzt standen nur noch sie beide da. Puh und Luzie. Luzie und Puh. Wie es der Zwerg auch drehte und wendete, es würde nicht gut werden. „Ich komme mir so beobachtet vor“, versuchte es Puh noch einmal mit einer lahmen Ausrede. „Zeig was du kannst und twiste mit mir“, sagte sie unerbittlich. Da war das Lied zu Ende. Der Zwerg atmete hörbar auf. Doch da folgte ein zweiter Twist mit der Ankündigung von Schnuffi, dem kleinen Hasen: „Den spielen wir nur für Puh und Luzie.“ Oje, jetzt gab es kein zurück mehr für den Zwerg. Vielleicht konnte er sich ja anpassen. Da sagte sie: „Du führst.“ Und das Unheil nahm seinen Lauf. Puh verschlang seine Füße schon bei den ersten Schritten ineinander. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Beine ständig überkreuzten und wäre beinahe über Luzie gefallen, als sie eine flotte Drehung machte. Der Zwerg fühlte sich sichtlich unwohl und manövrierte seine Tanzpartnerin mehr schlecht als recht über die ganze Waldwiese. Luzie war es zunächst schrecklich peinlich gewesen. Sie hatte gleich bei den ersten Takten gemerkt, dass Puh keine einzige Tanzstunde genommen haben konnte, geschweige denn zehn. Doch dann dachte sie: Es ist ganz allein seine Blamage. Ich habe Kitty ja nur erzählt, was ich Puh geglaubt habe. Lügen machen eben keine geschickten Beine. Der Zwerg versuchte, alles aus sich herauszuholen. Und so schwebte und schwelgte Puh mit ihr im Arm auf den Waldsee zu. Luzie sah das Verhängnis kommen und entwand sich mit einer geschickten Drehung seinem Griff. Da hob der Zwerg plötzlich ab und stürzte ins Wasser. Paddelnd und prustend versuchte er sich ans Ufer zu retten. Doch es funktionierte nicht: Luzie lachte: „Meinen Gutschein für den Schwimmkurs hast du also auch nicht eingelöst.“ Dann warf sie ihre Schuhe weit von sich, sprang ins Wasser und zog ihren Tänzer im Rettungsgriff ans Ufer.