Hasenstreit

Am Ostersonntag waren die Hasenkinder Schnuffi, Spitznäschen und Langöhrchen schon früh auf den Hasenpfoten. Die Neugier auf ihre Osternester hatte sie nicht mehr schlafen lassen. "Kommt in den Garten", drängelte Schnuffi. "Auf dem Dachboden ist manchmal auch was versteckt", sagte Langöhrchen. "Stimmt", meinte Spitznäschen, "also los. Zuerst nehmen wir das Haus auseinander und dann graben wir den Garten um." Seine Brüder hatten nichts dagegen. Die Haseneltern hätten wahrscheinlich jede Menge dagegen gehabt, aber sie schliefen. Die drei Hasenkinder machten sich ans Werk und krempelten alles um. Das würde ein schreckliches Erwachen für die beiden arglosen im Elternschlafzimmer geben. Nach langem Suchen entdeckten Schnuffi, Langöhrchen und Spitznäschen schließlich ihre Osternester. Der Osterhase war sehr fleißig gewesen. Für die vielen schönen Sachen hatte es sich gelohnt, eine Stunde lang durch den Garten zu hetzen und das ganze Haus auf den Kopf zu stellen, besonders wenn man es hinterher nicht wieder in Ordnung bringen musste. Die kleinen Hasen hatten einen neuen Ball, drei Blockflöten und jede Menge Naschereien bekommen.

Als die Haseneltern das Chaos sahen, das ihre Kinder verursacht hatten, schickten sie die Drei zum Holz sammeln in den Wald. Vater Hase wurde ins Wohnzimmer verbannt. Mutter Hase konnte ihn beim Aufräumen in Küche, Vorratskammer und Esszimmer nicht gebrauchen. Nachdem sie die gröbste Unordnung beseitigt hatte, legte sie die Süßigkeiten ihrer Kinder in eine Konfektschale und verputzte eines der Krokanteier. Das hatte sie sich verdient. Dann begab sie sich ins Wohnzimmer, wo ihr Hasenmann im Ohrensessel saß. "So, nun muss ich mal hier raus", sagte sie zum Hasenvater, der gerade in einem Hasenkrimi schmökerte. "Kommst du mit mir ein wenig spazieren?" "Hast du mit mir gesprochen?", schreckte Vater Hase hoch. "Ja!" "Oh, ich hab' nicht zugehört, der Hasenkommissar stellt gerade den Möhrendieb." "Was ist nun, kommst du mit spazieren?", fragte sie und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. "Gut, ja, warum nicht." Vater Hase legte das Buch zur Seite, setzte seinen Sonntagshut auf und folgte seiner Frau in die laue Frühlingsluft.

Als sie vor die Tür traten, kamen ihre drei Kinder mit prall gefüllten Holzkörben herbeigeeilt. "Na, wollt ihr mit uns ein Stück spazieren gehen?", fragte der Hasenvater. Einträchtig schüttelten sie die Köpfe. "Können wir euch denn überhaupt allein lassen?", fragte die Hasenmutter. Die Hasenkinder nickten. "Stellt bloß nicht wieder etwas an", gab ihnen Vater Hase mit auf den Weg. "Wir doch nicht", beteuerten sie im Chor. "Wenn's nur ein einziges Mal so wäre", murmelte die Hasenmutter. Und dann waren die Haseneltern verschwunden. Der Nachwuchs blieb allein zurück. Nachdem die Drei das Holz in den Schuppen gebracht hatten, spielten sie auf der Waldwiese Ball. Und da Bewegung an frischer Luft den Appetit anregt, zog es sie nach zwei Stunden in den Hasenbau.

"Ich nehme mir ein Krokantei", verkündete Schnuffi und wühlte in den Naschereien. "Ich will auch eins", sagte Langöhrchen und schnappte sich das Zweite. "Halt, halt, ihr beiden, ich will auch ein Krokantei", meldete sich Spitznäschen zu Wort. "Du kannst keins haben, es gibt nur zwei", belehrten ihn seine Brüder. "Komisch, von allem anderen gibt es mindestens drei. Ist ja nicht weiter schlimm. Lasst mich wenigstens mal kosten. Eure Krokanteier sind so dick, da könnt ihr ruhig ein Scheibchen von jedem Ei für mich abzweigen." "Kommt gar nicht infrage! Mein Krokantei ist gerade groß genug für mich allein!", ereiferte sich Schnuffi. "Nimm dir doch gefälligst etwas anderes", schnaubte Langöhrchen, "immer musst du das wollen, was wir uns gerade ausgesucht haben." Spitznäschen war uneinsichtig und streckte die Pfoten nach Langöhrchens Krokantei aus. Dieser ließ es zurück in die Schale fallen und schlug mit seiner Pfote nach Spitznäschens Ohr. Spitznäschen hingegen sah seine Chance gekommen. Er tauchte geschickt unter dem Pfotenhieb hinweg und warf sich auf die Konfektschale. Dort wühlte er nach Langöhrchens Krokantei. Triumphierend hielt er es in den Pfoten. "Gib es sofort wieder her", rief Langöhrchen und zerrte so Lange mit Spitznäschen um das Krokantei, bis die Konfektschale scheppernd zu Boden fiel. "Was hast du bloß wieder gemacht", schrie Spitznäschen seinen Bruder an. "Ich? Wer wollte mir denn mein schönes Ei stibitzen?", fragte Langöhrchen. Schnuffi hatte während ihres Streits sein eigenes Krokantei verputzt und besah sich nun den Scherbenhaufen. "Das war sie also, Muttis Konfektschale. Da lässt sich nichts mehr kleben", stellte er fest. "Und der hat sie runtergeschmissen", schrie Langöhrchen und zeigte auf Spitznäschen. "Nein, der war's." "So kommen wir doch nicht weiter", sagte Schnuffi und leckte sich das letzte Schokokrümel vom Schnäuzchen. "Also gut, was machen wir jetzt?", fragte Langöhrchen und sah Schnuffi erwartungsvoll an. "Wie wär's mit Aufräumen", sagte der kurz.

Gleich darauf zog Geschäftigkeit in den Hasenbau ein. Schnuffi und Spitznäschen entfernten die Scherben und brachten sie nach draußen, während Langöhrchen die Süßigkeiten aufsammelte und sie in ein Weidenkörbchen legte. An das Krokantei verschwendete er keinen Gedanken mehr. Sein schlechtes gewissen hatte sich gemeldet. Wieso hatte er nicht mit Spitznäschen geteilt? Auch Schnuffi hatte inzwischen ein schlechtes Gewissen. Sein Krokantei lag ihm schwer im Magen. Wieso hatte er Spitznäschen eigentlich nichts davon abgeben wollen? "Wie bringen wir das nur unserer Mutti bei", überlegte Spitznäschen, "sie wird nicht begeistert sein, wenn sie erfährt, dass wir uns um so ein blödes Ei gestritten haben." "Stimmt genau", sagte Schnuffi, "vielleicht kann uns ja Puh aus der Patsche helfen." "Einen Versuch ist es wert", stimmten seine Brüder ihm zu. Und so hoppelten sie zum Zwergenhaus.

"Hallo", Flötete Zwitschi, als er die drei Hasenkinder kommen sah. Munter flog er auf sie zu. "Guten Tag, Zwitschi, ist Puh zu Hause?", fragte Schnuffi. "Ja, zieht einfach an der Glocke. Vielleicht hat er einen Augenblick Zeit." "Hoffentlich", sprach Langöhrchen und bimmelte. Puh öffnete sein Türchen. Wie sah er denn heute aus? Seine Hände waren voll weißer Farbe. Sein Gesicht hatte auch ein paar weiße Tupfer abbekommen. "Wir stören doch nicht?", fragte Spitznäschen schüchtern. "Nein, nein, ich wollte sowieso gerade eine Pause einlegen. Ich renoviere nämlich meine Küche. Nachdem mir gestern mein Zaubertrank explodiert ist, muss ich heute eben zum Pinsel greifen. Aber jetzt werde ich erst einmal einen schönen Orangensaft trinken. Wollt ihr auch einen?" Und ob die Hasenkinder das wollten. Sie setzten sich alle an den weiß gepunkteten Küchentisch. "Nun erzählt einmal, was hat euch hier her verschlagen?", fragte der Zwerg. "Na ja, die Sache ist die", begann Langöhrchen, "ich und Schnuffi wollten ein Krokantei haben und Spitznäschen leider auch. Weil aber nur zwei in der Konfektschale waren, haben wir ihm gesagt, er soll sich etwas anderes nehmen. Das wollte er aber nicht und so haben wir uns gestritten." "Nicht schon wieder, müsst ihr euch eigentlich immer streiten?", fragte Puh. "Keine Ahnung", sagte Schnuffi, "jedenfalls, Am Ende ist die Konfektschale zerbrochen und wir bekommen bestimmt mächtig Ärger." "Das kann ich mir gut vorstellen", meinte der Wichtel, "nur mal nebenbei gefragt: Schon mal was vom Teilen gehört?" Beschämt blickte Langöhrchen zu Boden: "Gehört schon, aber Spitznäschen hätte sich ebenso gut etwas anderes aussuchen können." "Wollte ich aber nicht", tönte der und zupfte Langöhrchen am Schwänzchen. Dieser fuhr herum und biss Spitznäschen ins linke Ohr. Bald wurde aus den beiden Häschen ein einziges Fellknäuel. "Aufhören", versuchte sich Puh Gehör zu verschaffen, doch es hatte keinen Sinn. Erst als die Bank umfiel, auf der das Hasenknäuel kämpfte, kehrte ein wenig Ruhe ein. "Wollt ihr jetzt nicht wenigstens für fünf Minuten Ruhe geben und mir einmal zuhören?", fragte Puh, als er die Bank wieder hingestellt hatte. Langöhrchen und Spitznäschen legten verschämt die Ohren nach hinten und nahmen wieder Platz. "Hast ja recht Puh", brummelten sie. "Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns streiten." "Recht so", lobte der Zwerg. "Aber wo bekommen wir eine neue Konfektschale her?", murmelte Schnuffi versonnen und blickte Puh mit fragenden Augen an. "Ich habe eine Idee. Ihr malt mir ein Bild von der alten Schale und dann werde ich sehen, was ich für euch tun kann." Mit diesen Worten drückte ihnen der Wichtel ein paar Buntstifte und Papier in die Pfoten und schickte sie nach draußen in den Zwergengarten. Die Häschen gingen hinaus und setzten sich auf die grün gestrichene Bank, die vor dem runden Tisch im Zwergengarten stand und mit großen Sonnenblumen bemalt war.

Doch auch malen konnten sie nicht, ohne zu streiten. Sie wurden sich überhaupt nicht darüber einig, wie die Konfektschale ausgesehen hatte. Jeder unterbreitete einen anderen Vorschlag, diese waren voneinander so weit entfernt, dass in kürzester Zeit das schönste Geschrei im Gange war. "Und ich sage euch, sie war blau", ereiferte sich Schnuffi. "Nein, rot", verkündete Spitznäschen im Brustton der Überzeugung. "Ich glaube ihr beiden habt Tomaten auf den Augen, die Schale war natürlich grün", meinte Langöhrchen zu wissen. "Nein, blau!" "Nein, rot!" "Und ich sage euch, es war doch grün!"

Und so ging es noch einige Minuten hin und her. Da öffnete sich ein Fenster im Zwergenhaus. "Schön zu sehen, dass ihr wenigstens noch nebeneinander sitzt und nicht schon wieder übereinander hergefallen seid. Ich mache euch einen Vorschlag ..." Doch die Häschen hatten gar nicht bemerkt, dass Puh mit ihnen sprach. Noch immer warfen Sie mit Blau, grün und rot um sich. Da schaltete sich Zwitschi ein. Er landete auf dem Tisch und flatterte aufgeregt mit den Flügeln. "Könntet ihr wenigstens mal zuhören, wenn jemand mit euch redet?" Die Hasenkinder merkten auf: "Wer hat denn mit uns gesprochen?" "Ich!", meldete sich Puh zu Wort. "Aber bei dem Lärm wundert es mich nicht, dass keiner von euch etwas davon bemerkt hat. Ich wollte euch den Vorschlag machen, dass jeder seine eigene Konfektschale zeichnet. Ihr sucht euch dann gemeinsam in Ruhe - und ich meine Ruhe - die schönste aus und ich werde sie euch zaubern. Wenn ich aber noch ein geschrieenes Wort höre, überlege ich es mir anders und ihr könnt sehen, wie ihr die Scherben wieder zusammenleimt." Der Zwerg schloss sein Fenster. Das wirkte und es herrschte eine Stille unter den Hasenkindern wie selten.

Zwitschi war zufrieden. Sein Einsatz hatte sich gelohnt. Nun konnte er sich den fetten Regenwürmern in Puhs Garten widmen. In Gedanken versunken, stolperte er fast über Pünktchen, das in der Sonne döste. "Wie kannst du eigentlich bei dem Krach schlafen?", erkundigte er sich. "Das liegt an Puhs hartem Trainingsprogramm", gähnte das Reh gelangweilt, "der Hasenstreit ist wirklich entspannend, wenn man diesen Riesenknall bedenkt, den unser Wichtel gestern fabriziert hat." "Stimmt auch wieder", pflichtete ihm Zwitschi bei. Die Geschichten von den lieben Zwergen, die friedlich und still im Wald leben und aus den Bergwerken das Erz schürfen, glaubte der Vogel längst nicht mehr. Und Puhs missratenes Experiment hatte Zwitschis Theorie eindrucksvoll bestätigt.

Als jeder der drei Hasen sein eigenes Bild gemalt hatte, überlegten sie, welches nun das schönste wäre. Natürlich fand jeder, dass er die Schale am Besten getroffen hatte. "Aber streiten dürfen wir uns jetzt nicht", flüsterte Schnuffi, "sonst hilft uns Puh nicht." Seine Brüder nickten. "Was machen wir nur?", grübelte Langöhrchen. "Auf jeden Fall nichts, was lärm verursacht", gab Schnuffi zurück. Spitznäschen überlegte gerade, wie er seine Brüder leise anschreien konnte, um sie von der Schönheit seines Bildes zu überzeugen. Da sah er, wie Schnuffis Augen größer und größer wurden. Er hatte etwas entdeckt. Das saß vorm Gartenzaun, hatte lange Ohren und ein glänzendes weiches Hasenfell, die Haseneltern. Neugierig betraten Sie den Zwergengarten und warfen einen Blick auf den kleinen runden Tisch. "Das ist ja meine Konfektschale", sagte Mutter Hase und legte die rechte Vorderpfote auf Schnuffis Bild. "Könnte sie jedenfalls wieder werden", gaben ihre Kinder kleinlaut von sich. Und dann erzählten die drei Raufbolde die ganze Geschichte, ließen aber die Streitereien weitgehend aus, was das Ganze erheblich verkürzte. "Wollen wir doch einmal Puh fragen, ob er mir diese Schale herzaubern kann", schlug die Hasenmutter vor und klopfte an die Tür des Zwergenhauses.

Puh trat nach einer Weile schneeweiß heraus, denn das Geräusch hatte ihn so überrascht, dass er von seiner Leiter kopfüber in den Farbeimer gefallen war. Die Hasenmutter konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. "Ich glaub', ich muss in die Wanne", stellte Puh fest. Bevor er verschwinden konnte, hatte Zwitschi ihn entdeckt. "Puh, der Schneezwerg! Gestern noch Puh, der Rußwichtel! Du entwickelst dich aber schnell weiter", spottete er. Puh strafte den kleinen Vogel mit Verachtung. Doch Zwitschi ließ sich nicht stören: "Was hast du für morgen geplant? Fällst du in einen Korb voll Heidelbeeren und machst blau?", rief er dem Zwerg hinterher. Nachdem Puh gebadet hatte, beäugte er die Zeichnung. "Wirklich hübsch", lobte er anerkennend. "Und du meinst, die kann ich auch aus Keramik haben?" "Woll'n mal se'n", sprach der Zwerg geheimnisvoll und kraulte sich den Bart. Er holte seinen Zauberstab hervor und schwang ihn über dem Bild.

"Zur Konfektschale werde dieses Blatt Papier,
Blau, glasiert mit Blütenzier!"

Und das Blatt wirbelte durch die Luft, drehte sich zehnmal um sich selbst, kam auf den Tisch zurück und begann sich zu formen. In wenigen Augenblicken stand eine wunderschöne blaue Schale mit gelb- und rosafarbenen Blüten vor ihnen. Ein vorsichtiger Stups bestätigte der Hasenmutter, dass die Schale tatsächlich aus Keramik war. Zwitschi war fasziniert: "Kann man das mit jedem Bild machen?", fragte er. "Keine Ahnung, ich bin ja selbst noch völlig von den Socken, weil es wirklich geklappt hat", Puh blickte die Schale verdutzt an. "Würdest du es noch einmal versuchen, wenn ich dir ein Bild von mir male? Dann hätte ich einen Zwillingsbruder", Zwitschi strahlte seinen Wichtelfreund an. "Ich bin doch nicht verrückt", lachte der, "zwei von deiner Sorte sind mir genau einer zu viel." Dann rief Puh den Rest der Hasenfamilie ins Zwergenhaus. Auffordernd sah er sie an. Die Hasenkinder bestaunten die schöne schale und bedankten sich beim Wichtel für seine Hilfe. Der Hasenvater hob Puhs Zauberwerk vom Tisch, natürlich ganz vorsichtig, und trug es davon. Die anderen vier folgten ihm auf den Fuß. Kaum hatten sie den Zwergengarten verlassen konnte der Zwerg die Hasenkinder schon wieder vernehmen: "Und sie war doch grün!" "Nein, rot, sage ich!" "Was bin ich froh, dass ich mir das nicht jeden Tag anhören muss." Er atmete tief durch und schloss seine Tür hinter sich.