Der Flugwettbewerb

Die Morgendämmerung lugte durch das Schlafzimmerfenster des Zwergenhauses und betrachtete schmunzelnd die beiden Schlafenden. Puh lag unruhig mit den Händen fuchtelnd im zerwühlten Zwergenbett und murmelte: „Schnabel weg vom letzten Weinbergpfirsich, du gefräßiges Exemplar von einem Vogel! Lass mir wenigstens den einen übrig.“ Doch Puhs Hände griffen ins Leere. In seinem gemütlichen Schlafkörbchen, eingekuschelt in eine grün-gelb-karrierte Bettdecke, schlummerte Zwitschi, der kleine blau gefiederte Vogel und ein Lächeln spielte um seinen Schnabel. Er träumte gerade so süß. Soeben hatte er Gundula, der bezaubernden kleinen Krähe, einen silbernen Ring auf eine ihrer Krallen gesteckt und sah ihr tief in ihre leuchtend braunen Augen. Sie strahlte ihn an und er wagte es nun und stellte ihr die Frage aller Fragen: „Ich lege dir mein Herz zu Füßen, du schönste aller Krähen. Willst du, geliebte Gundula, meine Frau werden und mich zum glücklichsten Vogelmann im ganzen Zauberwald machen?“ Gundula lächelte noch immer und dann hörte Zwitschi ein: „ja, genau mach weiter so, und eins und zwei und drei und vier und fünf und noch einer, komm schon, der geht noch, ja, sehr schön ...“ Erschrocken fuhr er hoch. Sein Traumbild verblasste und verschwand. Verwirrt blickte er sich um. Wo waren Gundula und der silberne Ring geblieben und was war das. Ein in blinder Wut geworfenes Kopfkissen streifte knapp über seinen Kopf hinweg und landete auf der Kommode, wo es Puhs Mineraliensammlung durcheinanderwirbelte. Zwitschi stutzte. Was sollte dieser Angriff aus Richtung Zwergenbett. „Ruhe, verflixt und zugewichtelt noch mal!“, schnarrte Puh gefrustet, „Wenn du mir schon alle meine Weinbergpfirsiche wegfressen musst, kannst du wenigstens still sein!“ Zwitschi schüttelte sich. Er brauchte noch ein paar Augenblicke. Schließlich war er gerade erst wach geworden und verstand überhaupt nicht, was rund herum um ihn passierte. Doch halt? Was war das? Zwitschi lauschte angespannt. Kommandos! Wo kamen die denn her und wem galten sie? „Ja, das ist gut so, Willy, flieg jetzt bis zur Kastanie. Gleich hast du es geschafft. Noch ein Stückchen, prima. So das war große Klasse! Noch zwei Runden um die Fichte und dann darfst du ein wenig ausruhen, damit du munter bist für den Wettkampf in zwei Stunden.“ Puh war unterdessen wutentbrannt aus dem Bett gesprungen. Inzwischen war ihm klar, dass nicht Zwitschi, sondern Willy seinen Schlaf gestört hatte. Er riss das Fenster bis zum Anschlag auf und schrie: „Ruhe da draußen. Absolviere deine Wettkampfvorbereitungen gefälligst ohne Anweisungen. Du bist schließlich kein Trainer!“ „Und ob ich das bin!“, schrie Willy Kauz zurück, „ich bin Sportler und Trainer in einem Kauz. Da staunst du was?“ Puh knallte das Fenster zu, schnappte sein Kopfkissen und kroch zurück ins Bett. Wenig später schlief er wieder. Zwitschi hingegen war hellwach. Gerne hätte er sich zu Gundula und seinem Heiratsantrag zurückgeträumt. Aber es ging nicht. Willys frühmorgendliche Übungsstunde hatte ihm das Wettfliegen vor Augen geführt, das in zwei Stunden auf der Waldwiese stattfinden sollte. Und das wollte er unbedingt gewinnen. Eine Medaille in Gold würde ihm sicherlich gut stehen. Und so schlich er sich nach draußen und begann mit einem leichten Warm-up.

Als die große Walduhr Neun schlug, waren bereits die vier gefiederten Teilnehmer des Wettfliegens, nebst einem frenetischen Publikum auf der vom frischen Tau glitzernden Waldwiese versammelt. Auch die Sonne schaute strahlend durch die Wipfel der hohen Bäume und schickte den Wettkämpfern einen freundlichen Gruß. „Wollen wir wetten, dass unser Willy den Titel holt?“, raunte das Reh Pünktchen Puh zu, der neben ihm stand. „Willy, wie kommst du auf Willy?“, fragte der Zwerg entgeistert. „Hast du nicht bemerkt, wie fleißig der in den letzten Tagen trainiert hat, ja sogar noch heute Morgen, war er mit Feuereifer bei der Sache und ist Runde um Runde durch deinen Garten geflogen“, erklärte das Reh. „O ja, das ist mir nicht entgangen“, brummte Puh, „aus dem Schlaf hat er mich gerissen mit seinen Übungsflügen.“ „Also ob du es glaubst oder nicht, Willy ist mein Favorit und holt gewiss den Titel“, war das Reh entschieden. „Ach komm schon, der hat sich vorhin bestimmt übernommen und schläft schon während der ersten paar Meter ein“, gab Puh zurück, der die müde Kauzenfeder besser zu kennen glaubte als Pünktchen. „Wollen wir wetten,“, fragte das Reh. „Um was willst du denn mit mir wetten?“, fragte der Zwerg erstaunt zurück. „Um dein grünes Basecap, das finde ich schon lange echt toll und könnte es mir gut zwischen meinen Ohren vorstellen!“, meinte Pünktchen. „nur mal angenommen, Willy gewinnt nicht, sondern Zwitschi, auf den ich setze“, erkundigte sich Puh, „was setzt du dagegen?“ „Über meinen Einsatz müssen wir nicht verhandeln“, erklärte das Reh, „mein Tipp ist absolut sicher. Ich kann nicht verlieren, schließlich tippe ich auf Willy." Puh schmunzelte gönnerhaft und schlug ein. In diesem Fall konnten sie beide nichts verlieren, denn es war völlig ausgeschlossen, dass diese Schlafmütze von einem Kauz das Wettfliegen gewann. Also ließ er dem Reh sein Vergnügen und versprach ihm das Basecap im Falle von Willys Sieg. Immerhin erhöhte so eine kleine Wette den Reiz des sportlichen Wettkampfes.

Die Hasenkinder Schnuffi, Langöhrchen und Spitznäschen hatten aufmerksam zugehört und verkündeten nun: "Wenn Willy das Wettfliegen für sich entscheiden kann, bekommt Pünktchen Puhs grünes Basecap!" Und dabei kicherten sie, denn auch die Drei konnten sich bei allen Hasenohren dieser Welt nicht vorstellen, dass ausgerechnet Willy, der manchmal kaum die Augen offenhalten konnte, das Wettfliegen gewann. "Pünktchen setzt auf unseren Willy als Sieger?", fragte Eichhörnchen Hüpf verblüfft und ließ vor Schreck eine Haselnuss fallen, "und was hat Pünktchen dagegen gesetzt, für den Fall, dass es die Wette verliert?" "Nichts", riefen die Hasenkinder im Chor. "Dann ist Pünktchen also doch nicht so verrückt geworden, wie ich gedacht hatte", war das Eichhörnchen beruhigt und sammelte die Nuss wieder auf, um sie danach in seiner Backentasche verschwinden zu lassen. Auch die Maulwürfe waren auf die Wette Zwischen Puh und dem Reh aufmerksam geworden. Einträchtig schüttelten sie die Köpfe. Schließlich fragte Grabi: "Wisst ihr, warum man auf den voraussichtlichen Verlierer wettet?" "Weil es Willy freut, wenn ihn wenigstens einer in der Favoritenrolle sieht", erklärte sein Vater Wühli und lächelte verlegen. Und Stachelchen der kleine Igel gluckste: "Willy, die Nummer Eins im Schnellfliegen? Da eröffnen sich mir ja völlig neue Perspektiven. Wie wäre es mit einem Wettlauf, liebe Hasen?" "Glaub bloß nicht, dass wir die Geschichte nicht kennen", lachte Schnuffi und seine Brüder stimmten mit ein.

Die Wettflieger hatten unterdessen an der Startlinie Aufstellung genommen. Willy, der Kauz, Zwitschi, der kleine blaue Vogel und die beiden Tauben Guri und Guru. Aufgeregt tänzelte Willy auf seinem Startblock herum, bis ihn Startrichterin Gundula, die das Startzeichen geben sollte, zur Ordnung rief. Willy stand nun still und wartete gespannt auf den Startpfiff der Krähe. Doch der ertönte nicht, denn Gundula musste zuerst einmal noch für ruhe im Publikum sorgen. Dann führte sie die silberne Pfeife an den Schnabel. Zwitschi sah sie verträumt an. Sie bedeutete ihm mit dem Flügel auf die Startbahn zu schauen und schuldbewusst wandte der kleine Vogel den Blick ab. Die beiden Tauben unterdessen hatten damit begonnen, sich um den Startblock zu streiten, was den Beginn des Wettfliegens weiter verzögerte. "ich will nicht auf der Vier starten. Die Vier ist eine absolute Unglückszahl,", behauptete Guri und versuchte ihren Freund von seinem Startblock mit der Nummer Drei zu schubsen. "Lass mich bloß hier auf meiner Drei stehen. Ich geh doch nicht auf deinen Block, jetzt da ich weiß, dass die vier Unglück bringt. Vergiss es also ganz schnell", sagte der Täuberich. "Weil du eben kein Gentleman bist", erboste sich die Taube, "ein echter Kavalier sollte einer Dame den Vortritt auf Startblock drei lassen. "Das würde ich ja", sagte Guru, "aber ich sehe hier weit und breit keine Dame, ich höre nur ein zänkisches kreischendes Täubchen." Guri funkelte ihn wütend an und Gundula hatte alle Mühe die Sportler zur Ordnung zu rufen, außer Willy, der stand still auf seinem Startblock und zuckte mit keiner Feder. Sekundenbruchteile vor dem eigentlichen Startpfiff kippte der Kauz plötzlich vornüber und fiel über die Startlinie. Die anderen drei Vögel waren schon durchgestartet, als Gundula die gesamte Versammlung an ihre Startblöcke mit einem zweiten Pfiff zurückbeorderte und Willy das Fehlstartkärtchen an seinen Block heftete. Der Kauz schreckte von der allgemeinen Geschäftigkeit um ihn herum hoch, sah verblüfft, dass er einen Fehlstart fabriziert hatte, und nahm wieder Aufstellung. Auch dieses Mal dauerte das Startzeremoniell sehr lange. Willy hatte alle Mühe die Augen offenzuhalten. Er musste sichtlich kämpfen. Stillstehen und nicht einschlafen? War das überhaupt möglich? Verzweifelt versuchte er es mit Augenlidergymnastik. Dagegen konnte Gundula nichts einwenden, denn Füße und Flügel hielten dabei still. Aber beim fünften Mal Lid zu, erwischte es Willy eiskalt und er fiel rückwärts vom Startblock, während die anderen drei Wettflieger nahezu gleichzeitig mit Gundulas schrillem Startpfiff losgesaust waren.

"Willy, du lahme Schnarchfeder, es geht los", schrien die Hasen, so laut sie konnten, "du solltest jetzt langsam mal aufwachen!" Und auch Pünktchen feuerte seinen Topfavoriten verzweifelt an und rief: "Willy, Sport frei! Sport frei! Sport frei!" Doch der Kauz hörte das Reh nicht. "Willy, das Wettfliegen hat längst begonnen, du Schlafmütze", rief nun auch Hüpf, der immer den Außenseitern die Daumen drückte, und warf mit einer Haselnuss nach ihm, die den Kauz sogar am Schnabel erwischte. Vergebens! Willy rührte sich noch immer nicht. Erst, als ihm Gundula noch einmal ins rechte Ohr pfiff, kam der Kauz wieder zu sich. "Geht’s schon los", fragte er halb benommen und sah sich nach allen Seiten um. Die anderen drei waren weit enteilt. Nichts wie hinterher dachte Willy und startete endlich seinen Flug. "Willy, Willy, Willy", rief Pünktchen, "du kannst den Sieg noch holen!" "Dein Optimismus scheint unerschütterlich zu sein", lachte Puh und strich zufrieden mit sich und der Welt über sein Basecap. Zwitschi, sein lieber guter Zwitschi lag weit, weit in Führung. Die beiden Tauben folgten ihm. Und Willy? Der lag weit, weit hinten und stellte keine Gefahr dar. "Das Basecap bleibt in meinem Besitz", sagte Puh froh gelaunt und spöttelte lauthals: "Willy, wenn du dich ein bisschen beeilst, kannst du Zwitschi noch zu seiner Goldmedaille gratulieren." "Hör nicht auf ihn Willy mein Freund", kreischte Pünktchen, du holst sie noch alle und gewinnst selber Gold!" Willy hatte sich inzwischen etwas an die Tauben herangeschoben, denn die diskutierten eifrig, wer von ihnen die größere Flügelspannweite hatte und als sie sich nicht einigen konnten, versuchten sie es mit Hilfe zweier nebeneinanderstehender Bäume zu messen. Willy nutzte seine Chance und überflügelte die beiden. Ein Hochgefühl machte sich in ihm breit. Schließlich war er nun auf Silberkurs. Sichtkontakt zu Zwitschi hatte er auch, aber der Abstand zu dem kleinen Vogel vor ihm verringerte sich kein bisschen, so sehr er sich auch mühte. Unter ihm Peitschten Pünktchens ungebrochen optimistische Anfeuerungsrufe zu ihm herauf. Aber er kam einfach nicht an die blauen Federn vor ihm heran. Da - plötzlich - Zwitschi bremste ab. Hatte er das Ziel etwa schon erreicht? Nein, das konnte nicht sein, denn Puh schrie völlig außer sich: "Weiterfliegen Zwitschi. Um Himmels willen, das kannst du doch mit mir nicht machen." Was war nur passiert? Willy sah nicht nach links und nicht nach rechts. Er hatte nur eines vor Augen. Das war die Ziellinie unter ihn, die er unter einem wahren Beifallssturm der Zuschauer als Erster überflog.

Puh wollte sich gerade aus Pünktchens Blickwinkel stehlen, doch da: "Halt, da ist noch was. Ich kriege was von dir", ermahnte ihn das Reh. "Ach ja", sagte der Zwerg und griff nach seinem Basecap. "Danke", sagte das Reh, nachdem er es ihm aufgesetzt hatte. Die Hasenkinder applaudierten und fanden Pünktchen todschick mit Puhs Cap. "Das nächste Mal wetten wir auf seine rote Pudelmütze", sagten sie und kicherten. "ich wette nicht mehr", brummelte Puh, "nie mehr und das habt ihr Zwitschi zu verdanken." "Was ist mit mir?", flötete da eine zufriedene Vogelstimme. "Was soll schon sein. Ich habe soeben mein schönstes Basecap an Pünktchen verloren, weil du zwanzig Meter vor dem Ziel rechts abgebogen bist und die Ziellinie nicht überquert hast." "Ich habe mein Ziel jedenfalls erreicht", erklärte Zwitschi bestimmt, "ich war Erster!" "Von wegen", knurrte Puh. "Na ja, zumindest Erster an der Bude mit den Kirsch-joghurt-Schnitten. Frag deinen Koboldfreund Wuschel." Puh schlug die Hände überm Kopf zusammen. "Konntest du die Bude nicht nach deinem Zieldurchflug aufsuchen?" "Konnte schon, wollte nein. Oder glaubst du, ich stelle mich in eine ewig lange Schlange und riskiere, dass ich nach dieser großen sportlichen Anstrengung kein Schnittchen mehr abstaube, weil die anderen sie mir alle weggefuttert haben? Also wenn du dich beklagen möchtest, richte deine Beschwerden bitte an Wuschel, der hätte seine Bude ja auch ein bisschen später eröffnen können." "Ich hätte gedacht, dein sportlicher Ehrgeiz ist größer", sagte Puh resigniert. "Schnittchenmäßig jedenfalls war ich die absolute Nummer eins und was Willy angeht, man muss auch gönnen können. Und mit dem Flügel wies er auf Willy, der von der Eule Agathe die Goldmedaille überreicht bekam und dies mit einem breiten Siegerlächeln quittierte. "Außerdem wissen wir ja, wer der Schnellste war", meinte Zwitschi nach einer Weile augenzwinkernd. "Ich werde dran denken, wenn Pünktchen in der nächsten Zeit mit meinem Basecap an mir vorbeistiefelt", seufzte Puh und suchte an Wuschels Bude Trost.