Abendspaziergang

Die Sonne stand schon tief und tauchte den Zauberwald in ein rötliches Licht. Puh und Zwitschi hatten gerade zu Abend gegessen und saßen nun, das Mühlebrett zwischen sich, am Küchentisch. „Ich hab’ dich in der Zwickmühle“, triumphierte der kleine blaue Vogel, „wenn ich diesen Stein aus meiner Mühle ein Feld nach hinten schiebe, hab’ ich die nächste Mühle.“ Der Zwerg besah sich seine missliche Lage staunend. Wie war das nur passiert? Hatte dieses Spiel etwa ein System? Vielleicht hätte er die Anleitung studieren sollen, bevor er wahllos Steine aufs Spielbrett legte und sich freute, wenn zufällig ein Muster entstand. Für derlei Gedanken war es aber nun zu spät. Da zog es an der Glocke. „Mach du auf Zwitschi, ich tüftle gerade an einem genialen Plan“, sagte er. „Denk bloß nicht, dass ich mir nicht merke, wo die Steine gelegen haben“, zwitscherte der Vogel und flog auf die Türklinke. „Hallo“, rief Stachelchen fröhlich. Und auch Zwitschi freute sich, als er den kleinen Igel sah. Stachelchen war inzwischen ins Zwergenhaus getreten. Er hob prüfend die Igelnase, schnupperte hier, roch da und fragte schließlich: „Was riecht denn hier so lecker?“ „Puh und ich, wir haben heute Butterkekse gebacken. Und weil ich so fachkundig den Hebel der Kekspresse bedient habe, sind sie so gut gelungen.“ „Angeber“, brummelte Puh. Aber Zwitschi kümmerte sich nicht darum und flog zu einer Schale auf dem Küchenschrank.

Er schnappte sich ein besonders hübsches vierblättriges Kleeblatt und warf es Stachelchen, der unter ihm saß, genau ins weit aufgesperrte Igelschnäuzchen. „Probier mal“, sagte der kleine blaue Vogel. „An die Nummer könnte ich mich gewöhnen, wir könnten einen Waldzirkus gründen und du und ich treten dort als Keks-Akrobaten auf“, sagte Stachelchen zufrieden kauend. „Mit der Zeit würdest du bestimmt zur rollenden Kekslawine werden“, lachte Zwitschi und warf noch einen Keks hinterher. „Könnte schon sein, aber eure Wurfobjekte sind einfach köstlich“, sagte Stachelchen und verzog genüsslich schmatzend das Gesicht.

Nachdem sich auch Zwitschi noch einen Keks einverleibt hatte, flog er auf den Küchentisch zurück. „Was soll das Puh? Zwei von meinen Steinen sind verschwunden“, stellte er erbost fest. „Nicht dass ich wüsste“, tat Puh unschuldig. „Du glaubst wohl, ich kann nicht zählen“, schimpfte Zwitschi. „Ich hab’ keine Ahnung, wovon du sprichst. Wenn es dir nichts ausmacht, ich bin jetzt am Zug. Ach sieh mal da, meine erste Mühle ist fertig. Ich darf dir einen Stein entführen“, freute sich der Wichtel diebisch. „Du hattest überhaupt keine Möglichkeit für eine Mühle.“ „Dann schau mal hier her. Ich nehme diesen Stein, schiebe ihn ein Feld vor und dann hab ich vier Steine diagonal, das ist eine glasklare Mühle!“, sagte Puh. „Du hast gemogelt!“, schrie Zwitschi und schob Puhs Steine wieder so, wie sie vorher gelegen hatten. „Jetzt fehlen nur noch meine beiden Steine. Puh, wo hast du sie? Rück’ sie gefälligst raus“, und Zwitschi steckte seinen Schnabel in Puhs Hosentasche. „Was sind denn das für komische runde Dinger, da zwischen eurem Kaminholz“, fragte Stachelchen und hielt Zwitschis vermisste Spielsteine in der Pfote. „Puh, wie kommen die da hin?“, fragte der kleine blaue Vogel lauernd. Der Zwerg fuchtelte abwehrend mit den Armen, dabei fegte er alle Spielsteine vom Tisch: „Das tut mir aber leid, jetzt hab’ ich doch tatsächlich das ganze Spielbrett abgeräumt! Gerade jetzt, wo alle Zeichen auf Sieg für mich standen“, tat Puh zerknirscht. Zwitschi sah ihn verächtlich an: „Du bist ein Schummler, ein Falschspieler und Mogler!“ „Und du, du bist ein ...“ „Zwitschi“, vollendete der kleine Vogel Puhs Satz, bevor dem noch etwas Anderes einfallen konnte. Stachelchen hatte inzwischen die Steine aufgesammelt und fragte: „Wollt ihr den albernen Streit nicht beilegen? Puh gib einfach zu, dass Zwitschi die Partie gewonnen hat.“ „Hast gewonnen“, brummelte der Zwerg in seinen Bart. „Danke“, sagte Zwitschi und plusterte sich dick auf.

„Warum ich eigentlich hier bin“, fuhr Stachelchen fort, „ich wollte euch fragen, ob ihr nicht Lust auf einen Abendspaziergang im Wald habt.“ „Das ist eine großartige Idee“, lobte Puh den Vorschlag und auch Zwitschi war begeistert. Im Garten vor dem Haus trafen sie auf Pünktchen, das gerade Wasser aus dem Springbrunnen trank. „Hallo Pünktchen“, begrüßten sie das Reh, „hast du Lust mit uns ein Stück spazieren zu gehen?“ „Einverstanden“, sagte es, „nach dem reichlichen Abendbrot, tut ein bisschen Bewegung not.“ „Na, du kleiner Poet“, lachte Puh, „immer noch fleißig am dichten?“ Das Reh hörte ihn gar nicht. Gebannt schaute es an der alten Kastanie empor. Die anderen folgten seinem Blick. Der Kauz Willy hockte auf einem Ast und machte Kniebeuge. „Was ist denn mit dir los?“, fragte das Reh. „Ich bring’ mich in Form für die Mäusejagd heute Nacht. Die Viecher werden immer schneller und da muss ich mit einem Sportprogramm gegensteuern. Selbst gekocht schmeckt’s mir eben doch am besten.“ „Du meinst selbst erlegt und Roh vertilgt?“, fragte Zwitschi nach, der sich nicht vorstellen konnte, dass Willy die kleinen Nager, die er erlegt hatte, in den Kochtopf warf. „Mein’ ich doch, ich komme bloß hin und wieder aus dem Konzept. Das liegt sicherlich an den vielen Stunden, die ich zusammen mit Puh verbringe.“ Solange die vielen Stunden, die Puh zusammen mit dem Kauz verbrachte, den Wichtel nicht auch so aus dem Konzept brachten konnte es Zwitschi egal sein. „Kommst du mit uns spazieren“, fragte unterdessen Stachelchen. „Klar doch, vielleicht ist das ja ein angenehmeres Aufwärmprogramm, von den Kniebeugen brennen mir schon die Oberschenkel. Ich bin eben auch nicht mehr der Jüngste.“ Sprach’s und flog zu ihnen herunter.

Puh, Pünktchen und Stachelchen liefen nebeneinander her. Willy und Zwitschi flogen ihnen ein kleines Stück voraus. „Hab’ dich“, wisperte es auf einmal neben ihnen. „Hast mich nicht, guck mal wo ich hinkrabbeln kaaaaaann!“ Und das Glühwürmchen fiel vom Farn. „wo bist du denn?“, fragte das andere. „Weit in der Welt, gefangen inmitten lauter Schlingpflanzen. Hol mich bitte hier heraus!“ Puh, der das Spiel der beiden Leuchtkäfer amüsiert beobachtet hatte, hob das herabgestürzte Glühwürmchen aus dem Gras heraus und setzte es auf seine Hand. „Hilfe!“, schrie es, „ich will wieder runter! Solche Höhen bin ich nicht gewohnt. Ich bin nicht schwindelfrei.“ „Was ist mit dir?“, fragte das Glühwürmchen, das noch auf dem Farn saß, besorgt. „Aaaaah, jetzt geht’s abwääärts. Hilfe, es kribbelt ganz doll in meinem Bauch! Kannst du mich befreien kommen, bitte?“ In dem Moment setzte Puh das abgestürzte Glühwürmchen neben das andere. Oh hallo, ich sitz’ ja wieder neben dir.“ Und bevor es sich versah, rief das andere: „Und ich hab’ dich gefangen.“ Die fünf Spaziergänger lachten.

„Seh’ ich richtig? Da füttert ja Vater Blaumeise die Rotkehlchen. Hat der sich im Nest geirrt oder die falschen Eier ausgebrütet?“, fragte Pünktchen. „Ich frag’ ihn mal“, sagte Zwitschi, der auch die Vogelsprache verstand und verschwand. Als er wiederkam, hatte er Folgendes zu berichten: „Die Blaumeisenkinder waren alle so satt, dass er den restlichen Fang den Rotkehlchen zukommen lässt.“ „Puh, wenn du das nächste Mal Erdbeeren fängst, könntest du mir deinen restlichen Fang zukommen lassen? ... Ich meine, wenn du dann satt bist“, fragte Willy hoffnungsvoll. „ach weißt du, es ist das Alter, ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Bei der Erdbeerjagd brennen mir immer die Oberschenkel. Du müsstest das ja kennen. Da bin ich armer Zwerg froh, dass ich mich geradeso noch selbst ernähren kann“, kicherte Puh. „Ha, ha“, lachte Willy freudlos, „hab’ du erst mal meine Sorgen.“ Dem Kauz war Puhs Spott nicht entgangen. „Wenn dich die Mäuse hier so hören würden, kämen sie bald freiwillig bis vor deine Tür, dann müsstest du sie nur noch fressen“, sagte Puh. „davon habe ich schon oft geträumt“, entgegnete Willy versonnen. Hoffentlich konnte der Wichtel nicht in seinen Träumen herumschnurren. Heute Morgen hatte Willy nämlich davon geträumt, Puh eine große Tafel Nussschokolade zu stibitzen.

Stachelchen war unterdessen weitergelaufen und sah sich neugierig um. „Seht mal, hier findet ein Sportwettkampf statt“, machte der Igel seine Freunde auf ein aufregendes Rennen aufmerksam. Sieben Starter waren angetreten. Jeder von ihnen hatte eine Startnummer auf sein Häuschen gemalt bekommen. Ein schwieriger Parcours lag vor ihnen. Das Rennen lief schon eine Weile, als die fünf Spaziergänger eintrafen. Die ersten drei der zehn Zentimeter vom Startgrashalm bis zum Schneckenpilz waren schon von vier der sieben Teilnehmer bewältigt worden. „Das könnte noch ein Weilchen dauern, den Sieger sehen wir bestimmt noch auf dem Rückweg“, meinte Zwitschi und die anderen schlossen sich ihm an.

„Hört ihr das auch? Wo kommt denn dieses Getöse her?“, fragte Willy und stellte die Kauzenohren auf Empfang. „Na wo soll das schon herkommen“, lachte Zwitschi. Da ging auch Willy ein ganzer Kronleuchter auf: „Ach ich weiß, das kommt aus Richtung Hasenbau“, sagte er. Und dann machten sich die beiden gefiederten Freunde davon. „Schnuffi, du hast die Scheibe zerbrochen“, brüllte Langöhrchen. „Wenn du nicht eine so miese Flanke geschlagen hättest, die Spitznäschen dann auch noch mit seinem Kopf abgefälscht hat, wäre das alles nicht passiert. Dann hätte ich, der große Schnuffi-Stürmer das Tor des Monats geschossen.“ „Bei deiner schlechten Annahme?“, zweifelte Spitznäschen, „deine Ballbeherrschung reicht ja nicht mal für die Kreisklasse.“ „Aber foulen kann ich wie ein Profi“, sagte Schnuffi und stellte seinen Brüdern ein Bein. Schon bald rollte ein Hasenknäuel vor dem Hasenbau herum. Willy pfiff lautstark und Zwitschi rief: „Rote Karte und zwar für alle drei Feldspieler!“ Doch die Hasenkinder hörten die beiden Schiedsrichter nicht. Also suchten Willy und Zwitschi in der rollenden Spielertraube nach den langen Ohren und zogen daran. Rudelbildung war beim Fußball schließlich untersagt. Und die Bildung von Knäuels zählte sicher auch dazu. Die Hasenkinder sortierten sich auseinander. Und pusteten einmal kräftig durch Dann hoppelte Schnuffi in den Bau und holte den Ball. „Ich hab’ Muttis Blumenvase erwischt“, jammerte er. „Er hat tatsächlich das Tor des Monats geschossen“, frohlockten seine Brüder, „dafür kriegst du bestimmt von Mutti eine Trophäe, wie wär’s mit dem vergoldeten langgezogenen Ohr?“ Schnuffi stampfte trotzig mit dem Fuß auf. „Wofür kriegt er eine Trophäe?“, fragte die Hasenmutter, die gerade eingetroffen war. „Für seinen Meisterschuss!“, strahlte Langöhrchen und reckte die Pfoten in den Abendhimmel. „Wer hat euch eigentlich erlaubt hier vorm Bau Ball zu spielen?“, fragte die Hasenmutter. Schuldbewusst legten die Hasenkinder die Ohren nach hinten und schwiegen. „Und was ist denn das? Ihr habt ja die Fensterscheibe zerbrochen?“, stellte die Hasenmutter die nächste Frage. „Schnuffi war das“, beeilte sich Spitznäschen zu sagen, „und außerdem hat er die Blumenvase umgesenst.“ „Das wollte ich gar nicht wissen. Ihr wisst ganz genau, dass ihr ausschließlich auf der Waldwiese Ball spielen dürft“, schimpfte die Hasenmutter. „Kommt Schnuffi und Langöhrchen“, sagte Spitznäschen, „sie hat ja recht, gehen wir auf die Wiese.“ „Nichts da, ab, Marsch mit euch ins Bett. Und heute gibt’s auch keine Gute-Nacht-Geschichte.“ Geknickt schlichen die Hasenkinder in den Bau. „Was ist denn hier los“, fragte Puh und deutete auf das zerbrochene Fenster. „Fußballtraining“, antwortete die Hasenmutter knapp, „könntest du das da wieder in Ordnung bringen?“ „Heute nicht mehr, ich habe meinen Zauberstab nicht dabei. Aber morgen komme ich noch mal zu euch und sehe, was ich tun kann.“ „Dankeschön“, sagte die Hasenmutter und verschwand im Hasenbau. Sie musste unbedingt kontrollieren, ob ihr Nachwuchs ihre Anweisungen befolgte.

Die fünf Spaziergänger waren nun am Waldsee angekommen: „Hört mal, wie schön die Grillen zirpen“, war Zwitschi begeistert. „Was für Grillen“, krächzte es aus dem Gras, „das ist Quaki. Wir sind beide erkältet, ihn hat es noch schlimmer erwischt als mich“, erklärte Quieki. „Erkältete Frösche?“, wunderte sich Puh, „was es im Zauberwald doch alles gibt.“ „Es gibt ja auch Spielsteine, die zwischen das Kaminholz springen“, sagte Zwitschi. „Hä?“, fragte Willy. „Ach nichts“, wiegelte Puh ab. Stachelchen ließ seine Füße im Wasser baumeln und auch Pünktchen und Puh fanden Gefallen daran. Zwitschi und Willy setzten sich auf einen Baum und beobachteten die Gegend. „Eine Maus“, jauchzte der Kauz und entschwand Zwitschis Blick. Wenig später hörten sie ihn aufheulen: „Verflixter Stein, jetzt habe ich mir auch noch den Schnabel gestoßen.“ „Dann werde ich für unseren Willy wohl ein Töpfchen Grießbrei kochen müssen“, sagte Puh, „den muss er nicht zermalmen.“ Zwitschi schaltete sofort: „Aua, mein Schnabel, er schmerzt gar fürchterlich, ich glaube, ich kann nur noch mit Schokopudding gefüttert werden, sonst muss ich verschmachten“, jammerte er. „Oje“, murmelte Puh vor sich hin, „da hab ich ja ordentlich in die Nesseln gefasst.“ „Gegen Nesseln hab ich so überhaupt nichts einzuwenden“, meinte Pünktchen, „vor allem, wenn du sie für mich sammelst.“ Was denn nun noch alles! Der Wichtel schlug die Hände vors Gesicht.

„Sagt mal, wer wird denn eigentlich das Schneckenrennen gewinnen?“, fiel Stachelchen plötzlich ein und schon sprang der kleine Igel auf die Füße. „Los kommt, wenn wir uns jetzt schnell auf den Weg machen, können wir den glorreichen Sieger bestimmt noch feiern“, rief der Wichtel, froh über diesen abrupten Themenwechsel. „Das hat keine Eile“, meinte Pünktchen. Aber Puh jagte bereits hinter dem Igel her. Doch als er und Stachelchen die Rennstrecke erreicht hatten, saß keine Schnecke mehr vor dem Pilz, alle waren sie bereits hineingeschlüpft. „Schade, so flott hätte ich sie gar nicht eingeschätzt“, wunderte sich der Igel. „So flott unterwegs waren die kleinen Athleten auch nicht“, sagte Hüpf, das rotbraune Eichhörnchen, das an einer alten Buche hinabkletterte, „aber sie haben so gekeucht und gestöhnt, da konnte ich nicht anders. Ich musste sie einfach alle in den Pilz setzen.“